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Eberlein, Kurt Karl
Theaterkunst und Kunstwissenschaft — [o.O.], 1930

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https://doi.org/10.11588/diglit.43347#0007
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mit bemalter Leinwand und Vorhängen versehen, die alte Simultanbühne der
Kirche fortsetzen, zeigen nur in Paradies und Hölle höheren und reicheren Aus-
bau. So konnte das innen schön geschmückte „haut paradies“, das ja nicht nur
Himmelstreppe und Himmelstür, sondern auch den verschließbaren Himmel für
Gottvater und Engel hatte, zuweilen dreistöckig, so konnte die Hölle, mit Turm,
Kessel, Rachen (chape d’Hellequin), dem darüber liegenden Vorplatz (parloir)
und dem Gitterturm der Vorhölle zweistöckig erscheinen. Zwischen Bühne und
Zuschauern lag die gitterartig abgetrennte Zinne, und die Preise der Plätze waren
nach der Höhe vom Boden, also stufenweise gegliedert, bis zu den besonderen
Ehrengerüsten (hours), die als Vorgänger der Logen mit Brüstung, Gang und Reti-
rade auch für Erfrischung und Mahlzeit benutzt wurden. Das Musterbeispiel eines
solchen Theaters und Spiels zeigt die berühmte Miniatur Jean Fouquets aus dem
Andachtsbuch des Etienne Chevalier, die, um 1460 entstanden, uns das Spiel der
heiligen Apollonia etwa so deutlich macht, wie es in Bourges gespielt wurde. Eine
Abart dieser Mansionenbühne ist dann die podiumartige Einheitsbühne, die wir
aus Valenciennes (1547) kennen und die uns die Handschrift des Hubert Caillaux
in der Bibliotheque Nationale wie die Miniatur des Caillaux und des Jacques de
Moelles in der Bibliotheque James Rothschild in Paris zeigen. Daß schließlich
im 16. Jahrhundert diese Mysterienspiele zu reinen Volksbelustigungen werden,
die, laut und frech gestört, im Komischen versinken und durch eingestreute Farcen
(z. B. der Blinde und der Diener) den Pöbel erheitern, daß andererseits die welt-
lich-prunkvollen Triumphzüge, wie der 1536 in Bourges veranstaltete, das Schau-
wesen des geistlichen Spieles ins Pomphafte übertreiben, sei gleichsam als End-
punkt dieser großartigen Entwicklung angedeutet.
Louis Paris hat uns in seiner Untersuchung über die gemalten Tapeten im Hotel
de Dieu zu Reims 1836 gezeigt, wie ein französisches Mysterienspiel des 16. Jahr-
hunderts zu denken ist und wie es sich in der Dekorationsmalerei spiegelt. Die
Prinzipien dieses Marktspieles sind genau dieselben wie dann bei uns bis zum Aus-
gang des 16. Jahrhunderts, und wieder ist die bildende Kunst der beste Zeuge dieser
Volksspiele, die auch das italienische Kunstwesen der französischen Renaissance
nicht ganz zerstören konnte.
Emile Male, der französische Kunsthistoriker, hatte den Beweis versucht, daß
die neue Ikonographie und der neue Realismus des 15. Jahrhunderts in der Kunst
aus den Mysterienspielen Frankreichs gekommen seien und daß viele der zarten
beseelten Züge in der Darstellung der Passion auf die französischen Übersetzungen
der Meditationen über das Leben Christi von Bonaventura (Joannes de Caulibus)
zurückgingen. Das Wertvollste seiner Arbeit ist nicht die genannte These, die er zu-
nächst etwas übertrieben, dann neuerdings abgeschwächt hat, sondern das reiche

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