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Das Geld liegt am Wege.
Nahrung sucht. Das kleine Mädchen hat nun den ganzen
Nachmittag mutterseelenallein auf ihrem Hüterposten zuge-
bracht, bald ruhend, bald dem Vieh nachgehend, und es ist
ihr nicht zu verargen, wenn sie sich nach Gesellschaft sehnt.
Da hütet dort drüben, ebenfalls ganz allein, des Nachbars
Margreth, ihre Altersgcnossin, die Schafe auf dem Hügel-
rücken; wie schön wäre es, könnten sie zusammen sein; aber
der ganze Thalgrund und manches Stück Feld liegt dazwi-
schen. In dem hellen Streifen Abendroth, der sich eben über
jener Höhe am Himmel plötzlich hinter der dichten Wolken-
decke aufthut, kann sie die Umrisie der Kleinen und ihrer
Schäfchen, die sich wie schwarze Punkte von der fahlen Glut
abheben, deutlich erkennen.
Aber die Margreth hat keine Ahnung, daß zwei ferne
Augen auf sie gerichtet sind; sie schaut vielleicht gleichfalls in
den goldenen Schimmer hinüber, der so milde den trüben,
stillen Tag verklärt. Auch hört sie nichts von den abgerissenen
Jodelklängen, die wie unwillkührlich den Lippen ihrer kleinen
Gespielin sich entschwingen, jedoch immer alsbald wieder ver-
stummen; denn der Hütbube links drunten im Grunde kann
das „Lurln" doch schöner. Unsere Einsame horcht hinüber,
so oft eine neue Folge seiner monoton herfluthenden, gleich-
mäßig von der Tiefe zur Höhe steigenden und rasch wieder
abfallenden, aber immer mit einem hohen Klang, zuweilen
mit einem Juchzer schließenden „Lieder ohne Worte" über die
allmählig dämmernden Fluren erklingt.
Ihr verborgen, am andern Ende des Holzes hüten zwei
andere Kinder; denn jeder Bauer läßt hier sein Vieh geson-
dert weiden. Sie singen nicht, aber sie plaudern und rufen
einander zu und ihre Worte gehen wie ein wundersames
Raunen durch das Fichtengehölz und schlagen unverständlich
an das Ohr des lauschenden Kindes. Das Mädchen erräth,
wer es sein mag, aber sie darf die ihr anvertraute Heerde
nicht verlassen.
.So muß sie denn allein bleiben.
Da läuft eine andere kleine Gestalt über die Wiese her-
auf, dem Holze zu, und kaum gewahrt das Mädchen dieselbe,
als sie den neben ihr eingeschlafenen Hund schüttelnd ruft:
„Sultan, der Johann kommt!" — so daß das Thier, als
habe es in der That die Worte verstanden, aufspringt und
herumspäht, bis es den Herankeuchenden erblickt.
„Jo — Hann!" ruft sic sodann in gezogenem Tone dem
Ankömmling entgegen, erfreut, nun den gewohnten Feldgenossen
um sich zu haben, der ihr wohl überdies die erwünschte Kunde
mitbringen wird, bald „eintreiben" zu dürfen.
„Kath — rina!" erwidert dieser in gleicher Weise —
| und, nun angelangt, beginnt er sofort sein volles Herz aus-
< zuschütten.
„Kathriua, dem Hansthoma sein'Braune hat ein Füllen
bekommen — ach wie schön das ist — ich darf es bald aus-
führen und in die Schwemme reiten, hat er gesagt — grab
so schön braun wie das Alte! — Und der Schatzgokel hat
seinen Aepfelbaum geleert — zwei Hab' ich kriegt, da bring'
> ich Dir einen mit — schau nur wie groß —"
Das Mädchen langt hastig nach dem frischen, rothbacki-
gen Apfel, denn der Obstbau ist gering im Voigtlande, wäh-
rend nur einige Stunden weiter unten, im milden, gesegneten
Maingrunde, Fruchtbäume jedes Haus umstehen und häufig ;
noch die Felder einsäumen; — das Geschenk dünkt ihr ein
sehr werthvolles zu sein — gleich darauf aber sagt sie, wäh-
rend Johann sich neben sie setzl und die Arme um seine
Kniee schlingt: „Den bring' ich meiner Mutter mit!" worauf
auch Johann nicht zurückstehen will und beifügt: „Und meinen
thät' ich meiner Mutter geben, wenn ich ihn nicht schon
gessen hätt'."
Kathrina ist das Kind einer unbemittelten Webers-
wittwe, die in einem kleinen zum ansehnlichsten Hofe des
nahen Dorfes gehörigen Nebenhäuschen eingemicthet ist und
mit Hilfe eines Gesellen für einen Fabrikanten in dem etwa
3/4 Stunden entfernten Städtchen arbeitet. Sie erhält sich
und ihr Kind hiedurch redlich und in ausreichender Weise.
Letzteres wird im Bauernhöfe zum Hüten verwendet und bringt
in der Regel nur die Nacht bei seiner Mutter zu, da es
von den Bauersleuten verköstigt wird und in seinen freien
Stunden von dem fast gleichalterigen einzigen Buben des Bauern
— den wir eben kennen gelernt haben — als Spielgefährtin
in Anspruch genommen ist.
Beide lebten bisher wie Geschwister und ahnten von
der Verschiedenheit ihrer einstigen Lebensstellung nicht das
Mindeste. Eines war so reich wie das andere, denn sie
waren beide frisch und gesund, aßen aus derselben Schüssel
und hatten keinen Mangel zu fühlen. Johann brachte so
manchen Nachmittag mit auf der Hutweide zu; warum er
heute so spät gekommen, wißen wir bereits — das prächtige
Fohlen einerseits und die wichtige Begebenheit des Apfcl-
schüttelns andererseits hielten ihn an das Dorf gefesselt.
Im nächsten Teiche spiegelt sich der Abcudschimmer; wie
Das Geld liegt am Wege.
Nahrung sucht. Das kleine Mädchen hat nun den ganzen
Nachmittag mutterseelenallein auf ihrem Hüterposten zuge-
bracht, bald ruhend, bald dem Vieh nachgehend, und es ist
ihr nicht zu verargen, wenn sie sich nach Gesellschaft sehnt.
Da hütet dort drüben, ebenfalls ganz allein, des Nachbars
Margreth, ihre Altersgcnossin, die Schafe auf dem Hügel-
rücken; wie schön wäre es, könnten sie zusammen sein; aber
der ganze Thalgrund und manches Stück Feld liegt dazwi-
schen. In dem hellen Streifen Abendroth, der sich eben über
jener Höhe am Himmel plötzlich hinter der dichten Wolken-
decke aufthut, kann sie die Umrisie der Kleinen und ihrer
Schäfchen, die sich wie schwarze Punkte von der fahlen Glut
abheben, deutlich erkennen.
Aber die Margreth hat keine Ahnung, daß zwei ferne
Augen auf sie gerichtet sind; sie schaut vielleicht gleichfalls in
den goldenen Schimmer hinüber, der so milde den trüben,
stillen Tag verklärt. Auch hört sie nichts von den abgerissenen
Jodelklängen, die wie unwillkührlich den Lippen ihrer kleinen
Gespielin sich entschwingen, jedoch immer alsbald wieder ver-
stummen; denn der Hütbube links drunten im Grunde kann
das „Lurln" doch schöner. Unsere Einsame horcht hinüber,
so oft eine neue Folge seiner monoton herfluthenden, gleich-
mäßig von der Tiefe zur Höhe steigenden und rasch wieder
abfallenden, aber immer mit einem hohen Klang, zuweilen
mit einem Juchzer schließenden „Lieder ohne Worte" über die
allmählig dämmernden Fluren erklingt.
Ihr verborgen, am andern Ende des Holzes hüten zwei
andere Kinder; denn jeder Bauer läßt hier sein Vieh geson-
dert weiden. Sie singen nicht, aber sie plaudern und rufen
einander zu und ihre Worte gehen wie ein wundersames
Raunen durch das Fichtengehölz und schlagen unverständlich
an das Ohr des lauschenden Kindes. Das Mädchen erräth,
wer es sein mag, aber sie darf die ihr anvertraute Heerde
nicht verlassen.
.So muß sie denn allein bleiben.
Da läuft eine andere kleine Gestalt über die Wiese her-
auf, dem Holze zu, und kaum gewahrt das Mädchen dieselbe,
als sie den neben ihr eingeschlafenen Hund schüttelnd ruft:
„Sultan, der Johann kommt!" — so daß das Thier, als
habe es in der That die Worte verstanden, aufspringt und
herumspäht, bis es den Herankeuchenden erblickt.
„Jo — Hann!" ruft sic sodann in gezogenem Tone dem
Ankömmling entgegen, erfreut, nun den gewohnten Feldgenossen
um sich zu haben, der ihr wohl überdies die erwünschte Kunde
mitbringen wird, bald „eintreiben" zu dürfen.
„Kath — rina!" erwidert dieser in gleicher Weise —
| und, nun angelangt, beginnt er sofort sein volles Herz aus-
< zuschütten.
„Kathriua, dem Hansthoma sein'Braune hat ein Füllen
bekommen — ach wie schön das ist — ich darf es bald aus-
führen und in die Schwemme reiten, hat er gesagt — grab
so schön braun wie das Alte! — Und der Schatzgokel hat
seinen Aepfelbaum geleert — zwei Hab' ich kriegt, da bring'
> ich Dir einen mit — schau nur wie groß —"
Das Mädchen langt hastig nach dem frischen, rothbacki-
gen Apfel, denn der Obstbau ist gering im Voigtlande, wäh-
rend nur einige Stunden weiter unten, im milden, gesegneten
Maingrunde, Fruchtbäume jedes Haus umstehen und häufig ;
noch die Felder einsäumen; — das Geschenk dünkt ihr ein
sehr werthvolles zu sein — gleich darauf aber sagt sie, wäh-
rend Johann sich neben sie setzl und die Arme um seine
Kniee schlingt: „Den bring' ich meiner Mutter mit!" worauf
auch Johann nicht zurückstehen will und beifügt: „Und meinen
thät' ich meiner Mutter geben, wenn ich ihn nicht schon
gessen hätt'."
Kathrina ist das Kind einer unbemittelten Webers-
wittwe, die in einem kleinen zum ansehnlichsten Hofe des
nahen Dorfes gehörigen Nebenhäuschen eingemicthet ist und
mit Hilfe eines Gesellen für einen Fabrikanten in dem etwa
3/4 Stunden entfernten Städtchen arbeitet. Sie erhält sich
und ihr Kind hiedurch redlich und in ausreichender Weise.
Letzteres wird im Bauernhöfe zum Hüten verwendet und bringt
in der Regel nur die Nacht bei seiner Mutter zu, da es
von den Bauersleuten verköstigt wird und in seinen freien
Stunden von dem fast gleichalterigen einzigen Buben des Bauern
— den wir eben kennen gelernt haben — als Spielgefährtin
in Anspruch genommen ist.
Beide lebten bisher wie Geschwister und ahnten von
der Verschiedenheit ihrer einstigen Lebensstellung nicht das
Mindeste. Eines war so reich wie das andere, denn sie
waren beide frisch und gesund, aßen aus derselben Schüssel
und hatten keinen Mangel zu fühlen. Johann brachte so
manchen Nachmittag mit auf der Hutweide zu; warum er
heute so spät gekommen, wißen wir bereits — das prächtige
Fohlen einerseits und die wichtige Begebenheit des Apfcl-
schüttelns andererseits hielten ihn an das Dorf gefesselt.
Im nächsten Teiche spiegelt sich der Abcudschimmer; wie
Werk/Gegenstand/Objekt
Pool: UB Fliegende Blätter
Titel
Titel/Objekt
"Das Geld liegt am Wege"
Weitere Titel/Paralleltitel
Serientitel
Fliegende Blätter
Sachbegriff/Objekttyp
Inschrift/Wasserzeichen
Aufbewahrung/Standort
Aufbewahrungsort/Standort (GND)
Inv. Nr./Signatur
G 5442-2 Folio RES
Objektbeschreibung
Maß-/Formatangaben
Auflage/Druckzustand
Werktitel/Werkverzeichnis
Herstellung/Entstehung
Entstehungsort (GND)
Auftrag
Publikation
Fund/Ausgrabung
Provenienz
Restaurierung
Sammlung Eingang
Ausstellung
Bearbeitung/Umgestaltung
Thema/Bildinhalt
Thema/Bildinhalt (GND)
Literaturangabe
Rechte am Objekt
Aufnahmen/Reproduktionen
Künstler/Urheber (GND)
Reproduktionstyp
Digitales Bild
Rechtsstatus
Public Domain Mark 1.0
Creditline
Fliegende Blätter, 49.1868, Nr. 1212, S. 106
Beziehungen
Erschließung
Lizenz
CC0 1.0 Public Domain Dedication
Rechteinhaber
Universitätsbibliothek Heidelberg