Geschichten a
daß nicht Wasser, sondern ein silbcrklarer Spiegel oder der
kostbarste Krystall von der Anhöhe herabkommt und an dem
Gestein in kleine Stücke zerbricht.
Eine hohe und steile Klippe hängt über den Bach her-
über. Sie ist ganz mit Moos und struppigem Gras be-
wachsen, dessen krause Wurzeln in das Wasser hineinragen.
Wilder Hopfen umwuchert das Gestein und wiegt sich in
üppigen Büscheln. Unten braust und saust das Wasser. Das
ist die „Klippe der Ure".
Hier hält der Wagen an. Die Mädchen blicken in den
rollenden Bach und fragen den alten Griwa: „Warum wird
dieses Felsstück die „Klippe der Ure" genannt?"
„Wozu braucht Ihr das zu wissen?" antwortet Griwa.
„Aber Du weißt es doch, so sage es uns auch!"
„Ach, meine Täubchen, wenn ich es Euch sagte, so
würdet Ihr niemals mehr hierher kommen, Eure Wäsche zu
spülen."
„Ach, warum nicht gar? Sag'es uns doch, Aelterchcn!"
Und die Mädchen bitten den Alten und streicheln ihm
den Bart, so daß er nicht länger widerstehen kann, sich auf
einen Stein am Rande des Baches setzt und zu erzählen
beginnt:
„Einmal — es ist schon lange her, denn es war noch
vor den Tatareneinfällen — regierte in Perejaslaw ein Fürst.
! Der war Euch ein so vortrefflicher Schütze, daß Alles was
I er nur erblickte, seine Beute wurde, daher liebte er auch die
Jagd leidenschaftlich. Einst vertiefte sich der Fürst aus der
eifrigen Verfolgung eines Wilds im Wald und verlor sich
ganz von seinem Gefolge. Er ritt immer weiter und gelangte
endlich auf eine weite Lichtung, wo er eine Heerde Ure wei-
den sah."
„Was sind das Ure, Väterchen?" unterbrach Orißja
1 den Erzähler.
„Das, msin Vögelchen, sind wilde Stiere mit goldenen
Hörnern; jetzt sieht man sie nirgends mehr. Der Fürst er-
blickt also diese Ure, wundert sich aber nicht über ihre gol-
denen Hörner, sondern staunt entzückt ein junges Mädchen
an, das die Ure hütet und deren Schönheit die ganze Um-
gebung erhellt. Er nähert sich ihr, aber ein magisches Licht
geht von ihr aus, so daß er geblendet stehen bleiben muß.
Er vergißt die Jagd, vergißt sein Gefolge, vergißt, daß er
sich verirrt hat, so erfüllt die wunderbare Schönheit vor ihm
sein Herz.
„Mädchen!" ruft der Fürst ihr zu, „werde meine Frau!"
„Wenn der Trmbailo rückwärts fließt, .dann werde ich
Deine Frau," antwortet das Mädchen.
„Der Fürst aber fährt fort: „Wenn Du meine Bitte
nicht erfüllst, schieße ich alle Deine Ure nieder."
„Wenn Du auf meine Ure schießst," entgegnet Jene,
„dann wirst Du niemals wieder schießen."
„Da ward der Fürst böse, riß die Armbrust von der
Schulter und begann auf die goldgehörnten Ure zu schießen.
Diese stürzen in den Wald, daß sie die Bäume umrcnncn,
der Fürst hinter ihnen her, schickt einen Pfeil dem andern
s der Ukräne. 155
nach. Die Jagd nähert sich dem Trubailo — und der Tru-
bailo war damals nicht so flach wie jetzt — die Ure laufen
den hohen Fels hinauf und springen Alle in's Wasser. Aber
nicht Einer schwamm weiter, sondern sie wurden sämmtlich zu ;
Steinen, so daß sie den Fluß staucten. Das Mädchen aber
klatschte in die Hände und rief: „ Hast Du meine goldgehörnten
Ure in die wilde Fluth getrieben, so sollst Du jetzt für ewige
Zeiten im Walde herumirren!" Und bis zu dieser Zeit irrt
der Fürst, wie man sagt, im Walde herum und kann nicht
wieder nach Perejaslaw gelangen. Perejaslaw war inzwischen
in Tatarenhäuden und dann in der Hand der Polen und i
hat mannigfache Schicksale erfahren, der Fürst aber kann es
nicht wieder finden. Die Ure liegen auch noch immer ver-
steinert im Wasser, und — horcht einmal hin: Das ist nicht
das Brausen des Wassers, das Ihr hört, das ist das dumpfe
Gebrüll der Ure, das aus dem Wasser hervordringt. Man
sagt übrigens, daß einmal die Zeit kommen wird, wo der
Fürst zu dieser Klippe gelangt, dann werden die Ure wieder
auflcben, aus den Wellen emportauchen und in.die dichlen
Wälder der Ukräne ziehen."
Lautlos hatten die Mädchen der Erzählung des Alten
gelauscht; lautlos saßen sie noch da, als er geendet und ängst-
lich zugleich. Orißja scheut sich, auf das Gestein zu blicken,
das sich gruppenweise durch die Wellen hcrvordrängt. Schon
scheinen cs ihr in der That nicht mehr Steine zu sein und
das Wasser rauscht wirklich nicht so wie gewöhnliches Wasser.
Der alte Griwa hat die Mädchen vollständig erschreckt. !
Sie wissen nicht, sollen sie an ihre Arbeit gehen, oder schnell
wieder den Wagen besteigen und nach Hause zurückkehren. !
Nur der alte Griwa chat ein ruhiges Gemüth und sieht die
Mädchen an und lächelt.
(Schluß folgt.)
20 *
daß nicht Wasser, sondern ein silbcrklarer Spiegel oder der
kostbarste Krystall von der Anhöhe herabkommt und an dem
Gestein in kleine Stücke zerbricht.
Eine hohe und steile Klippe hängt über den Bach her-
über. Sie ist ganz mit Moos und struppigem Gras be-
wachsen, dessen krause Wurzeln in das Wasser hineinragen.
Wilder Hopfen umwuchert das Gestein und wiegt sich in
üppigen Büscheln. Unten braust und saust das Wasser. Das
ist die „Klippe der Ure".
Hier hält der Wagen an. Die Mädchen blicken in den
rollenden Bach und fragen den alten Griwa: „Warum wird
dieses Felsstück die „Klippe der Ure" genannt?"
„Wozu braucht Ihr das zu wissen?" antwortet Griwa.
„Aber Du weißt es doch, so sage es uns auch!"
„Ach, meine Täubchen, wenn ich es Euch sagte, so
würdet Ihr niemals mehr hierher kommen, Eure Wäsche zu
spülen."
„Ach, warum nicht gar? Sag'es uns doch, Aelterchcn!"
Und die Mädchen bitten den Alten und streicheln ihm
den Bart, so daß er nicht länger widerstehen kann, sich auf
einen Stein am Rande des Baches setzt und zu erzählen
beginnt:
„Einmal — es ist schon lange her, denn es war noch
vor den Tatareneinfällen — regierte in Perejaslaw ein Fürst.
! Der war Euch ein so vortrefflicher Schütze, daß Alles was
I er nur erblickte, seine Beute wurde, daher liebte er auch die
Jagd leidenschaftlich. Einst vertiefte sich der Fürst aus der
eifrigen Verfolgung eines Wilds im Wald und verlor sich
ganz von seinem Gefolge. Er ritt immer weiter und gelangte
endlich auf eine weite Lichtung, wo er eine Heerde Ure wei-
den sah."
„Was sind das Ure, Väterchen?" unterbrach Orißja
1 den Erzähler.
„Das, msin Vögelchen, sind wilde Stiere mit goldenen
Hörnern; jetzt sieht man sie nirgends mehr. Der Fürst er-
blickt also diese Ure, wundert sich aber nicht über ihre gol-
denen Hörner, sondern staunt entzückt ein junges Mädchen
an, das die Ure hütet und deren Schönheit die ganze Um-
gebung erhellt. Er nähert sich ihr, aber ein magisches Licht
geht von ihr aus, so daß er geblendet stehen bleiben muß.
Er vergißt die Jagd, vergißt sein Gefolge, vergißt, daß er
sich verirrt hat, so erfüllt die wunderbare Schönheit vor ihm
sein Herz.
„Mädchen!" ruft der Fürst ihr zu, „werde meine Frau!"
„Wenn der Trmbailo rückwärts fließt, .dann werde ich
Deine Frau," antwortet das Mädchen.
„Der Fürst aber fährt fort: „Wenn Du meine Bitte
nicht erfüllst, schieße ich alle Deine Ure nieder."
„Wenn Du auf meine Ure schießst," entgegnet Jene,
„dann wirst Du niemals wieder schießen."
„Da ward der Fürst böse, riß die Armbrust von der
Schulter und begann auf die goldgehörnten Ure zu schießen.
Diese stürzen in den Wald, daß sie die Bäume umrcnncn,
der Fürst hinter ihnen her, schickt einen Pfeil dem andern
s der Ukräne. 155
nach. Die Jagd nähert sich dem Trubailo — und der Tru-
bailo war damals nicht so flach wie jetzt — die Ure laufen
den hohen Fels hinauf und springen Alle in's Wasser. Aber
nicht Einer schwamm weiter, sondern sie wurden sämmtlich zu ;
Steinen, so daß sie den Fluß staucten. Das Mädchen aber
klatschte in die Hände und rief: „ Hast Du meine goldgehörnten
Ure in die wilde Fluth getrieben, so sollst Du jetzt für ewige
Zeiten im Walde herumirren!" Und bis zu dieser Zeit irrt
der Fürst, wie man sagt, im Walde herum und kann nicht
wieder nach Perejaslaw gelangen. Perejaslaw war inzwischen
in Tatarenhäuden und dann in der Hand der Polen und i
hat mannigfache Schicksale erfahren, der Fürst aber kann es
nicht wieder finden. Die Ure liegen auch noch immer ver-
steinert im Wasser, und — horcht einmal hin: Das ist nicht
das Brausen des Wassers, das Ihr hört, das ist das dumpfe
Gebrüll der Ure, das aus dem Wasser hervordringt. Man
sagt übrigens, daß einmal die Zeit kommen wird, wo der
Fürst zu dieser Klippe gelangt, dann werden die Ure wieder
auflcben, aus den Wellen emportauchen und in.die dichlen
Wälder der Ukräne ziehen."
Lautlos hatten die Mädchen der Erzählung des Alten
gelauscht; lautlos saßen sie noch da, als er geendet und ängst-
lich zugleich. Orißja scheut sich, auf das Gestein zu blicken,
das sich gruppenweise durch die Wellen hcrvordrängt. Schon
scheinen cs ihr in der That nicht mehr Steine zu sein und
das Wasser rauscht wirklich nicht so wie gewöhnliches Wasser.
Der alte Griwa hat die Mädchen vollständig erschreckt. !
Sie wissen nicht, sollen sie an ihre Arbeit gehen, oder schnell
wieder den Wagen besteigen und nach Hause zurückkehren. !
Nur der alte Griwa chat ein ruhiges Gemüth und sieht die
Mädchen an und lächelt.
(Schluß folgt.)
20 *
Werk/Gegenstand/Objekt
Pool: UB Fliegende Blätter
Titel
Titel/Objekt
"Geschichten aus der Ukräne"
Weitere Titel/Paralleltitel
Serientitel
Fliegende Blätter
Sachbegriff/Objekttyp
Inschrift/Wasserzeichen
Aufbewahrung/Standort
Aufbewahrungsort/Standort (GND)
Inv. Nr./Signatur
G 5442-2 Folio RES
Objektbeschreibung
Maß-/Formatangaben
Auflage/Druckzustand
Werktitel/Werkverzeichnis
Herstellung/Entstehung
Entstehungsort (GND)
Auftrag
Publikation
Fund/Ausgrabung
Provenienz
Restaurierung
Sammlung Eingang
Ausstellung
Bearbeitung/Umgestaltung
Thema/Bildinhalt
Thema/Bildinhalt (GND)
Literaturangabe
Rechte am Objekt
Aufnahmen/Reproduktionen
Künstler/Urheber (GND)
Reproduktionstyp
Digitales Bild
Rechtsstatus
Public Domain Mark 1.0
Creditline
Fliegende Blätter, 49.1868, Nr. 1218, S. 155
Beziehungen
Erschließung
Lizenz
CC0 1.0 Public Domain Dedication
Rechteinhaber
Universitätsbibliothek Heidelberg