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Die Hauptkirche Beatae Mariae Virginis in Wolfenbüttel — Forschungen der Denkmalpflege in Niedersachsen, Band 4: Hameln: Verlag C.W. Niemeyer, 1987

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HÄRMEN THIES

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57 Kapitellkonsole der Hallenseitenschiffe.

Modell fehlen. Doch erlauben zwei Holzschnitte
des Elias Holwein mit den Aufrissen der Nord-
langseite und der Turmfront sowie ein Kupferstich
des Herzog-Anton-Ulrich-Museums in Braun-
schweig mit der ursprünglichen Planung für das
Innere, sich ein in seinen Grundzügen sicher zu-
treffendes Bild des Entwurfes zu machen. Auf der
Holwein-Wiedergabe der projektierten Nordlang-
seite wird Paul Francke ausdrücklich als der Inven-
tar dieser Architektur genannt.20’ Die drei Stiche
nach dem Francke-Entwurf geben zur Hauptsache
den realisierten Bau wieder; gleichzeitig aber wei-
chen sie — zum Teil erheblich — von der Ausfüh-
rung ab. Da Francke am 10. 11. 1615 — lange vor
der Fertigstellung der Marienkirche — gestorben
war, liegt die Vermutung nahe, daß in den drei Sti-
chen sein damals nur zu Teilen realisierter Entwurf
überliefert ist — vielleicht sogar ausdrücklich über-
liefert werden sollte — und daß alle Abweichungen
in der Ausführung als nachträgliche Planänderun-
gen anzusehen sind, die nicht mehr von Francke,
sondern von seinen Nachfolgern vorgenommen
und autorisiert wurden. Zu allererst wäre hier an
Johannes Meyer zu denken.
Die größten Differenzen zwischen Entwurf und
Ausführung läßt der Kupferstich mit der Schnitt-
perspektive des von Süden gesehenen Hallenrau-
mes erkennen. Diese Darstellung kombiniert einen
Teilgrundriß mit einem Längsschnitt entlang der
Mittellinie und einem perspektivischen Querbild
der Halle. Sie geht auf Darstellungsweisen zurück,
die von der italienischen Hochrenaissance entwik-

kelt worden waren — Leonardo und Peruzzi etwa —
und die über zahlreiche Stichwerke und Traktate
des 16. Jahrhunderts rasche Verbreitung in ganz
Europa finden sollten. Gerade im Vergleich mit
jüngeren Darstellungen des Kirchenraumes der 102
BMV, die ein eher konventionelles, achsiales Bild 103
entwerfen, ist hier ein im Wortsinn exzentrischer
Standpunkt gewählt, der die „Einheit“ Halle ge-
genüber den anschließenden „Einheiten“ des Tur-
mes links und des Querriegels rechts als ein weit-
räumig offenes und alles andere als eindeutig um-
grenztes, eindeutig gerichtetes Raumgehäuse her-
aus- und vor Augen stellt. Die Halle isoliert sich
gegenüber dem Ganzen; gleichzeitig aber bleibt sie
ihm mannigfach verbunden, da die Hüllwände und
Wölbungen nicht nur der Halle, sondern gleichzei-
tig den anschließenden Kompartimenten der Ar-
chitektur zugehören. Das am und im Bau so auffa-
lende Disponieren und Artikulieren klar umgrenz-
ter Baukörper und Raumgehäuse und ihr wechsel-
seitiges Fügen zu komplexer Gestalt bestimmt
auch den Charakter dieses Entwurfsbildes. Wir
dürfen deswegen sicher sein, in dem Moment des
Setzens und Fügens (Disposition und Komposi-
tion) „kubisch“ und „frontal“ organisierter Einhei-
ten ein Charakteristikum des Entwerfens Paul
Franckes erkannt zu haben, das auch noch in der
Ausführung, die gerade innen erheblich von seinen
Intentionen abweicht, wirksam blieb.
Allein das Auflisten der Differenzen zwischen
dem Entwurfsbild und der Realisierung macht auf
Positionen der Unsicherheit hinsichtlich des weite-
ren Vorgehens nach dem Tode Franckes, ja sogar
der Verunklärung des ursprünglichen Entwurfs-
konzeptes aufmerksam: Die quadratischen, auf
hohe Vasenpostamente gesetzten Hermenpfeiler
Franckes wirken trotz ihrer stereometrischen
Grundform und ihrer wiederholten Durchsetzung
und Bandagierung mit Reliefquadern, und zwar
nur aufgrund ihrer Kontur und Proportionierung,
als Stütz-Figuren, ja -Statuen. Sie scheinen Stele
und Karyatide in sich zu vereinen und zu einem
Architekturglied erstarren zu lassen, in dem der
schlanke Leib, die Schultern und der (jetzt „vierge-
sichtige“) Kopf seiner Ursprungsform immer noch
zu erkennen sind. Diese Haupt- und Kunst-Stücke
der Marienkirche Franckes sind in der Ausführung
durch jene achtseitigen Freipfeiler ersetzt, die mit 49
den Strebepfeilern der Außengliederung korre- 23
spondieren und so „verbindlicher“ erscheinen als
die so ganz und gar auf sich selbst konzentrierten
Prachtstützen des ursprünglichen Entwurfes. Nur
die Kapitelle sind — wie die übrigen „Gelenk- 56
stücke“ zwischen der Hallenwölbung und den
Hüllmauern bzw. -pfeilern auch — in Anlehnung
an das im Kupferstich überlieferte Muster gearbei-
tet worden.
Die Emporen und Priechen sind ähnlich wie 20

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