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Scite 2 tKtKSiliKMdLiKtÄiKiK^dÄiKStilSirjKrKiKiKiKiKrKrKtKrViKÄi:^ Nr. 32.

Cambrai, St. Quentin, Noyon bis zur Grenze von
Lnremburg und Elsaß-Lothringen. Ostende ist der nörd-
lichste Punkt des besetzten Gebiets. Von dort kann man
über Lille und Mezieres-Charleville oder über Brüssel-
Lüttich-Köln nach Berlin — oder über Metz-Saarbrücken
bis nach Kattowitz — oder meinetwegen über Lüttich-Münster-
Bremen bis Kiel — oder über Lüttich-Köln-Frankfurt nach
München und Wien — oder über Heidelberg bis an die
Schweizer Grenze, und zwar beinahe genau so rasch
wie in Friedenszeiten. Allerdings dürfen die durchlaufenden
Wagen in den Zügen der Hauptstrecken nur von Militär-
personen benutzt werden, anderen Reisenden nur, wenn sie die
vorgeschriebenen Ausweise im Dienfte oder Auftrage der
Heeresverwaltung besitzen. Auch besteht Paßzwang, und die
Bahnverwaltung übernimmt keine „Verpflichtung" zur Beför-.
derung von Personen und Gütern, wie sie sonst üblich ist; sie
kann gegebenenfalls Züge ausfallen lassen, wenn es im
militärischen Jnteresse liegt, anderseits aber auch gestatten,
daß Strecken, die noch nicht der Lffentlichkeit übergeben sind,
von Privatpersonen benutzt wcrden. Denn natürlich wird das
Netz der großen Fernverbindungen von zahllosen Seitenlinien
durchquert, an die sich an bestimmten Punkten Kleinbahnen
anschließen, die wiederum in Feldbahnen übergehen, so daß die
Beförderung von Material beispiclsweise bis an die Schützen-
gräben und die vorgeschobensten Stellungen möglich ist. An
einigen Stellen der Westfront wird die gleiche Bahnlinie von
Freund und Feind benützt; ich stand gelegentlich auf einem
Meßtnrm im Bereiche der zweiten Armee, von dem aus ich
einen sranzöstschen Zug auf demselben Schienenwege dampfen
sah, auf dem ich selbst auf der von uns besetzten Seite ge-
fahren war. Unserm Feldeisenbahnwesen gebührt ein beson-
derer Lorbeerkranz.

Jch mußte zunächst nach St. Quentin. Das war eine
leichte Fahrt. Jch stieg nachmittags halb vier in Berlin in
den fahrplanmäßigen Zua, war um Mitternacht in Köln
und fand dort fosort Anschluß nach meincm Zielpunkt und
zwar in einem Schlafwagen, dem nichts an Bequemlichkeit
fehlte, als die mangelnde Waschgelegenheit. Dis war nämlich
aus Stickel gewesen und der Enteignung zum Opfer gefallen,
nnd ein Ersatz hatte noch nicht beschafft werden können.

Die Nachtsahrt von Köln aus ging über Lüttich—Namur—
Maubeuge. Jn der Morgenfrühe huschte der Zug durch Le
Cateau und Busigny, durch grünendes Wiesengelände und
frisch umbrochene Äcker, an kleinen Städten, Dörfern und
Weilern vorüber, in denen nichts mehr an Krieg und Ver-
wüstung erinnerte. Nun sind wir schon in der alten Picardie,
in dem Gebiet der Somme und Oife mit ihren Kreideebenen
und fruchtbaren Weiden. Ein Pfiff: St. Quentin, und ich krame
rasch ein paar geschichtliche Erinnerungen zusammen. Ein Un-
glücksort für die Franzosen. Jm Jahre 1S57 besiegte hier die
Armee Philipps II. von Spanien unter Emanuel von Savoyen
das Heer Heinrichs II., und im Januar 1870 siegten die Deut-
schen unter Goeben über die beiden Korps des Generals
Faidherbe. Jn den letzten heißen Augusttagen 1914 schlugen
die Deutschen auf denselben blutgetränkten Feldern die Fran-
zosen abermals gewaltig auf das Haupt, und hier war es
auch, wo Prinz Eitel Friedrich bei einem Sturmangriff selbst
zur Tromniel griff und die Schlägel rührte. Die kleine Be-
gebenhcir ist sogar durch die französischen Blätter gegangen, und
Rudolf Presber hat sie in einem hübschen Gedicht verherr-
licht. „Es war ein Augenblick der Gefahr", erzählte mir der
Prinz, als ich nach dem Geschehnis fragte; „der Angriff war
heiß, und mir schien, als wankten beim Ansturm die vorderen
Reihen. Da entriß ich denn dem Mann die Trommel und
schlug selber los — und nun ging es von neuem vorwärts.. .."
Es liegt in der Schlichtheit seines Wesens, daß er das kühne
Vordringen nur als ein Nebenbei betrachtet und eine Selbst-
verständlichkeit.

Jn St. Quentin erwartete mich der Kraftwagen des
Prinzen, und jetzt ging es bei prachtvollem Wetter durch die
Frühlingslandschast. Der Lenz ist hier schon weiter vor-
geschritten als bei uns; Kirsch- und Mandelbäume stehen in
Blüte, und am Raine entfaltet auch der Schlehdorn seine
rosigen und weißen Federbuschel. Die Gegend ist anfänglich
ziemlich flach und eintönig. Wir überschreiten die Sperre
eines Bahndamms; auf gut gehaltener, jedenfalls vortrefflich
ausgebesserter Straße saust unser Wagen zwischen frisch be-
stellten Ackern und saftigen Wiesengründen südwestlich. überall
in den Dörfern am Wege liegen deutsche Truppen, aber wenn
nicht in der Ferne dumpfer Geschützdonner rollte, würde
man kaum an kriegerische Zeiten denken. Ein unendlicher Friede
liegt über der Landschaft. Auf den Weiden grasen Rinder-
heerden, in den Koppeln springen übermütig die Pferde um-
her, auf den Äckern arbeiten unsere Soldaten gemeinsam
mit russischen Gefangenen und französischen Landleuten. Viele
von den letzteren sind freilich nicht übrig geblieben. Die Iung-
mannschaften sind eingezogen, doch was noch die Arme rühren
kann, muß hinaus auf das Feld. Die Frühjahrsbestellung ist
von Wichtigkeit, die Wintersaat steht gut. Landwirtschaftliche

Maschinen wurden aus Deutschland verschrieben; mancherlei
sand man noch in den Wirtschaften vor, meist englische, vielfach
jedoch auch deutsche Fabrikate. Bei dem schweren und fetten
Lehmboden spielt der Dampfpflug eine gewichtige Rolle; die
Bestellung ist nicht immer leicht, aber auch in diesem Falle be-
währt sich die deutsche Umstcht und Gründlichkeit. Sachver-
ständige Offiziere, meist selbst Gutsbesitzer, führen die Ober-
aufsicht; Unteroffiziere, Bauernsöhne von daheim, befehligen die
Arbeiterkolonnen; Holztafeln mit Jnschriften auf den Feldern
zeigen an, daß hier Winterrogen, da Sommerweizen, drüben
Hafer und Luzerne stehen. Die Acker werden trocken gelegt,
Gräben leiten das Wasser ab; an den Straßen zieht sich das
Drahtgeflecht der elektrischen Leitungen für den Fernsprech
und Telegraphenverkehr und den Starkstrom entlang, der die
Sägewerke und die Fabrikanlagen treibt. Was irgendwie
benutzbar gemacht werden konnte, wurde wieder in Stand gesetzt.
Ein großer und starker Wille regiert hier dieselbe Kraft, die
weiter vorn die Operationen leitet: eine Strategie, die auch
die Stille im Sturm, die Friedenspausen im Kriege zu nützen
weiß.

Der Wagen rasselt über das Pflaster eines Somme-
Städtchens: das ist Ham. Im Bergfried seines alten Schlosses
saß dermaleinst Napoleon III. als Prinz Louis Bonaparte ge-
fangen. Das war nach der mißlungenen Begebenheit von Bou-
logne, als er mit Montholon, Persigny, Conneau und fünfzig
bewaffneten Begleitern die Garnison zu gewinnen versuchte
und in das Wasser plumpste, da er sich im Augenblicke der
Gefährdung in sein Boot zu retten gedachte. Die Pairs-
kammer zu Paris machte kurzen Prozeß mit ihm und verur-
teilte ihn zu lebenslänglicher Gefangenschaft. Fast sechs Jahre
saß er in Ham, bis es ihm an einem Maitage des Jahres 1846
gelang, in der Verkleidung eines Arbeiters zu flüchten und
nach London zurückzukehren. Aber die Zitadelle von Ham
barg noch berühmtere Gefangene als den Mann des zweiten
Dezembers, so Ludwig von Bourbon, den Prinzen Conds
und vor allem Jeanne d'Arc, die Heldin von Orleans, bevor
sie nach Rouen Lberführt wurde. Jn der alten Picardie ist
Johanna noch die reine Heilige, deren Seele als weiße Taube
aus den Flammen des Scheiterhaufens gen Himmel stieg.
Die Landschaft, durch die wir fahren, hält ihre Erinnerung
fest; bei Lagny, Pont l'ErrSque, Roye und weiter herunter
bis Compiegne flatterte ihre weiße Fahne mit den Lilien,
und selbst in dem kleinsten Dörfchen hat man ihr Denksleine
und Standbilder errichtet. Aber in diesen Standbildern ist
sie selten die Heldin, sondern trotz ihrer Panzerung meist
immer das rührende Mädchen, das in seherischer Verzückung
das nationale Empfindungsleben zu neuem Aufschwung führte:
steht auch immer in schöner Theaterstellung, und wo es angeht,
ist ihr Kleid geschlitzt; denn alles Rührende schließt nach
französischer Auffassung einen Hauch von Sinnlichkeit nicht
aus.

Moräste erstrecken sich rings um Ham. Dann wird die
Landschaft abwechselungsreicher. Wir machen der besseren
Straße halber einen kleinen Umweg über Nesle, wo der pi-
cardische Troubadour Blondel de Nesle geboren worden sein
soll, den alte Sagen mit Richard Löweiiherz in Verbindung
bringen. Nun geht es südlich, den Grenzen des Besetzungs-
gebiets zu. Das merkt man. Der Geschützdonner wird leb-
hafter, in der sommerlichen Luft flattern kleine weiße Wölk-
chen auf und verschwimnien wieder im Äther: ein feindlicher
Flieger wird beschossen. Zahllose solcher Luftkämpfe konnte
ich deobachten. Die Abwehrkanonen sind in ununterbrochener
Tätigkeit, aber sie treffen selten ihr Ziel. Sie sind, im Grunde
genommen, nur zum Verjagen da. Die rasche Beweglichkeit
der Flugzeuge und die Luftspiegelung machen einen Treffer
vom Zufall abhängig; nur in der Höhe selbst kann der Kampf
zwischen feindlichen Fliegern vorterlhaft ausgefochten werden.

Auch hier überall wohlbestellte Acker. Aus den Weiden
erholen sich die Gäule von Druse und Räude. Ein Flüßchen
schlängelt sich durch das Wiesengrün. Rechts schieben stch be-
waldete Höhen vor: unsere letzten Stellungen. Dahinter liegt
der Franzose. Hie und da führt die Straße noch durch Baum-
reihen von kanadischen Pappeln, in deren Wipfeln ein Gewirr
von Misteln dunkle Flecken bildet. Krähen haben in ihnen ihre
Nester gebaut. Sie krächzen umher; ein ganzer Schwarm
steigt mit inißtönigem Geschrei zum Himmel auf. Viele Bauni-
reihen hat man niederlegen müssen. Mancherlei ästhetische
Werte hat der Krieg vernichtet; aber in den Schützengräben
wird viel Holz gebraucht, um die Erde zu stützen und die
Unterstände zu sichern, und besser ein Baum fällt, als ein
Menschenleben. Eine leichte Wendung der Straße, und wir
sind am Ziele: im Dorfe A., dem Standquartier der Division.

Ein stattliches Dorf wie die meisten der Picardie, aber
nicht so freundlich wie unsere heimischen Dörfer. Die
Häuser sind städtischer; es fehlen die moosbewachsenen Stroh-
dächer, die spitzen Giebel, das Grün der Auen, das An-
heimelnde und Trauliche. An der ersten Straßenecke lesen
wir auf einer Holztafel „Kronprinzenstraße". Hier stnd,
wie überall, die Straßennamen verdeutscht oder vielmehr in

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