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Feuer: Monatsschrift für Kunst und künstlerische Kultur — 3.1921/​1922

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Benz, Richard: Aussprüche des Novalis über das romantische Geisterreich der Poesie
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https://doi.org/10.11588/diglit.44743#0229
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AUSSPRÜCHE DES NOVALIS
ÜBER DAS ROMANTISCHE
GEISTERREICH DER POESIE
RICHARD BENZ
Es giebt gewisse Dichtungen in uns, die einen ganz andern Charakter
als die übrigen zu haben scheinen, denn sie sind vom Gefühle der
Nothwendigkeit begleitet, und doch ist schlechterdings kein äußerer
Grund zu ihnen vorhanden. Es dünkt dem Menschen, als sey er in einem
Gespräche begriffen, und irgend ein unbekanntes, geistiges Wesen veranlasse
ihn auf wunderbare Weise zur Entwickelung der evidentesten Gedanken.
Dieses Wesen muß ein höheres Wesen seyn, weil es sich mit ihm auf eine Art
in Beziehung setzt, die keinem, an Erscheinungen gebundenen Wesen möglich
ist. Es muß ein homogenes Wesen seyn, weil es ihn wie ein geistiges Wesen
behandelt, und ihn nur zur seltensten Selbstthätigkeit auffordert. Dieses Ich
höherer Art verhält sich zum Menschen, wie der Mensch zur Natur, oder
der Weise zum Kinde. Der Mensch sehnt sich, ihm gleich zu werden, wie er
das Nichtslch sich gleich zu machen sucht. — Darthun läßt sich dieses Faktum
nicht, jeder muß es selbst erfahren. Es ist ein Faktum höherer Art, das nur
der höhere Mensch antreffen wird; die Menschen aber sollen streben, es in
sich zu veranlassen. — Philosophiren ist eine Selbstbesprechung obiger Art,
eine eigentliche Selbstoffenbarung, Erregung des wirklichen Ich durch das
idealische Ich. Philosophiren ist der Grund aller andern Offenbarungen;
der Entschluß zu philosophiren ist eine Aufforderung an das wirkliche
Ich, daß es sich besinnen, erwachen und Geist seyn solle.
Die Trennung von Philosoph und Dichter ist nur scheinbar und zum Nach*
theil beider. Es ist ein Zeichen einer Krankheit und krankhaften Constitution.
Die Poesie ist der Held der Philosophie. Die Philosophie erhebt die Poesie
zum Grundsatz; sie lehrt uns den Werth der Poesie kennen. Philosophie ist die
Theorie der Poesie; sie zeigt uns, was die Poesie sey; daß sie Eins und Alles sey.
Sollte es nicht ein Vermögen in uns geben, das dieselbe Rolle hier spielte, wie die
Veste außer uns, der Aether, jene unsichtbare sichtbare Materie, der Stein der
Weisen, der überall und nirgend, alles und nichts ist? Instinkt oder Genie
heißen wir sie, sieistüberall vorher; sie ist die Fülle der Zukunft, dieZeiten#
fülle überhaupt, das in der Zeit, was der Stein der Weisen im Raum ist: Ver#
nunft, Phantasie, Verstand und Sinn sind nur ihre einzelnen Functionen.

Unsre Seele muß Luft seyn, weil sie von Musik weiß, und dran Gefallen hat.

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