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Die Gemälde
alle ihre Worte und Werke zur Ehre Gottes einzurichten. Denn voll Huld neigt die
heiligste Jungfrau sich zu ihnen herab und gewährt ihnen den Beistand ihrer mächtigen
Hilfe, um die Frucht vom Baume des Lebens, d. i. im Sakramente
den heiligsten Leib ihres Sohnes, zu empfangen.74
Die Abhängigkeit des Isenheimer Altarwerkes vom Sermo a n g e 1 i»
cus der heiligen Birgitta erscheint nach diesen Proben nicht
nur durch die Uebernahme zahlreicher Einzelheiten gesichert — die ver»
klärte Mädchengestalt als die vorzeitliche Maria im Ratschlüsse der Er»
lösung, das Kristallgefäß, die von zwei Engeln gehaltene Ehrenkrone,
der Feigenbaum, die Engelchöre, die Propheten, die Altväter im
Giebelfeld, der Dunstkreis mit den ersten Menschen,75 der Tempel, der
Strahlenhimmel mit Gott Vater und den zahllosen kleinen Engeln, die
Rose von Jericho und die in den vielsagenden Anblick ihres Kindes
vertiefte Mutter, das Jawort Marias an den Engel, ihr Zusammen»
bruch unter dem Kreuze und ihre höchste irdische Freude: die Auf»
erstehung ihres Sohnes —, sondern sie spiegelt sich auch im Gesamt»
bildgehalt des Altars so greifbar deutlich, daß an der letzten Ab»
sicht Grünewalds kein Zweifel erlaubt ist: der Meister versucht
hier eine bildliche Vergegenwärtigung der tiefsinnigen Mariologie
der von ihm bevorzugten seherischen schwedischen Heiligen. Es
ist mit einem Worte der gedankliche und wirkliche
Gang Marias durch alle Jahrtausende der Heilsge»
schichte : ihre ewige Auserwählung im Schoße des Vaters, ihre
Begrüßung durch die Engel am Morgen der Schöpfung, ihre freudige
Erwartung durch die Stammeltern, Erzväter und Propheten, ihre Be»
deutung als zweiter Tempel und würdigste Pforte, ihre dem Engel
erklärte Bereitschaft für das Werk der Erlösung, ihr Doppelschicksal
als dornenreiche Rose von Jericho, d. h. als freudigste und doch be»
trübteste aller Mütter, die Karfreitagsstunde ihres Lebens am Kreuze
und am Grabe und ihr höchster irdischer Ehrentag als erste Zeugin der
Auferstehung. Ihre himmlische Verklärung ist weggelassen.
Der Schlüssel zur Betrachtung des ganzen Altares, zugleich der
ungefähre geometrische Mittelpunkt der ganzen Innenansicht ist also
die geheimnisvolle Mädchengestalt unter dem Tor»
bogen, und man wird jetzt erst so recht den himmelweiten Unter»
Die Gemälde
alle ihre Worte und Werke zur Ehre Gottes einzurichten. Denn voll Huld neigt die
heiligste Jungfrau sich zu ihnen herab und gewährt ihnen den Beistand ihrer mächtigen
Hilfe, um die Frucht vom Baume des Lebens, d. i. im Sakramente
den heiligsten Leib ihres Sohnes, zu empfangen.74
Die Abhängigkeit des Isenheimer Altarwerkes vom Sermo a n g e 1 i»
cus der heiligen Birgitta erscheint nach diesen Proben nicht
nur durch die Uebernahme zahlreicher Einzelheiten gesichert — die ver»
klärte Mädchengestalt als die vorzeitliche Maria im Ratschlüsse der Er»
lösung, das Kristallgefäß, die von zwei Engeln gehaltene Ehrenkrone,
der Feigenbaum, die Engelchöre, die Propheten, die Altväter im
Giebelfeld, der Dunstkreis mit den ersten Menschen,75 der Tempel, der
Strahlenhimmel mit Gott Vater und den zahllosen kleinen Engeln, die
Rose von Jericho und die in den vielsagenden Anblick ihres Kindes
vertiefte Mutter, das Jawort Marias an den Engel, ihr Zusammen»
bruch unter dem Kreuze und ihre höchste irdische Freude: die Auf»
erstehung ihres Sohnes —, sondern sie spiegelt sich auch im Gesamt»
bildgehalt des Altars so greifbar deutlich, daß an der letzten Ab»
sicht Grünewalds kein Zweifel erlaubt ist: der Meister versucht
hier eine bildliche Vergegenwärtigung der tiefsinnigen Mariologie
der von ihm bevorzugten seherischen schwedischen Heiligen. Es
ist mit einem Worte der gedankliche und wirkliche
Gang Marias durch alle Jahrtausende der Heilsge»
schichte : ihre ewige Auserwählung im Schoße des Vaters, ihre
Begrüßung durch die Engel am Morgen der Schöpfung, ihre freudige
Erwartung durch die Stammeltern, Erzväter und Propheten, ihre Be»
deutung als zweiter Tempel und würdigste Pforte, ihre dem Engel
erklärte Bereitschaft für das Werk der Erlösung, ihr Doppelschicksal
als dornenreiche Rose von Jericho, d. h. als freudigste und doch be»
trübteste aller Mütter, die Karfreitagsstunde ihres Lebens am Kreuze
und am Grabe und ihr höchster irdischer Ehrentag als erste Zeugin der
Auferstehung. Ihre himmlische Verklärung ist weggelassen.
Der Schlüssel zur Betrachtung des ganzen Altares, zugleich der
ungefähre geometrische Mittelpunkt der ganzen Innenansicht ist also
die geheimnisvolle Mädchengestalt unter dem Tor»
bogen, und man wird jetzt erst so recht den himmelweiten Unter»