Isenheimer Altar
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schied in der äußeren Erscheinung der beiden Madonnen gewahr und
sieht die Unmöglichkeit ein, beide als ein und dasselbe, nur durch eine
Zeitspanne von wenigen Monaten (zwischen Erwartung und Geburt)
getrennte Wesen zu begreifen. Schon der Größenunterschied
hätte eigentlich längst Bedenken gegen die landläufige Deutung als
Maria in der Erwartung einflößen müssen. Dort die Erstgeborene der
Schöpfung, die verklärte Jungfrau, gleichsam das sinnenfällig ge*
wordene Geistwesen, die Kleinwelt, die reinste, feinste Mischung der
vier Urstoffe, die vorzeitliche Maria, „Maria als Idee, als
ewiger Gedanke, aufkeimend, wachsend, Maria vor der Zeit, auf der
Schwelle der Zeit, wie sie sich selbst als Erfüllerin der Zeit schaut“
(Niemeyer).
Und daneben rechts in der Landschaft die in die Zeitlichkeit
gestellte Mutter, ein Wesen von Fleisch und Blut, versenkt in das
Schicksal ihres Kindes, „Maria als Gestalt, als Weib, als irdische Voll*
zieherin des Gottesschicksals“ (Niemeyer). Schon diese Wahrnehmung
zeigt, daß die auf den ersten Blick so ansprechende Bestimmung der
rätselhaften Erscheinung als Maria in der Erwartung ihrer Geburt
nicht aufrechterhalten werden kann. Und von diesem Brennpunkt
aus erschließen sich dann in zahlreichen feinen Verknüpfungen die
reichen figürlichen, sachlichen, pflanzlichen Einzelheiten der Tafel zu
dem von der geistvollen nordischen Seherin geschauten Gesamtbilde der
Excellentia Virginis, der einzigartigen Stellung der heiligen Jungfrau im
Heilsplan. Verkündigung und Auferstehung schließen sich als Eck*
gedanken sinngemäß an, und auch die Kreuzigung fügt sich
— mit der sichtlich betonten Erscheinung der weißgewandeten Mutter
des Herrn als Schmerzensmutter — mühelos ein. Es waren nicht bloß
formale, sondern gedankliche Gründe, die diese — nur schein*
bare — Spaltung des mariologischen Themas veranlaßt haben, und man
steht nun erst recht staunend vor der überlegenen Begabung des
Meisters, der den beziehungsreichen, vielgestaltigen Inhalt des „Sermo
angelicus“ der heiligen Birgitta zu einer wunderbaren künstlerischen
Einheit zu verarbeiten wußte. Und wenn wir uns fragen, auf welchem
Wege Grünewald zu seiner nicht alltäglichen Vorlage kam, so werden
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schied in der äußeren Erscheinung der beiden Madonnen gewahr und
sieht die Unmöglichkeit ein, beide als ein und dasselbe, nur durch eine
Zeitspanne von wenigen Monaten (zwischen Erwartung und Geburt)
getrennte Wesen zu begreifen. Schon der Größenunterschied
hätte eigentlich längst Bedenken gegen die landläufige Deutung als
Maria in der Erwartung einflößen müssen. Dort die Erstgeborene der
Schöpfung, die verklärte Jungfrau, gleichsam das sinnenfällig ge*
wordene Geistwesen, die Kleinwelt, die reinste, feinste Mischung der
vier Urstoffe, die vorzeitliche Maria, „Maria als Idee, als
ewiger Gedanke, aufkeimend, wachsend, Maria vor der Zeit, auf der
Schwelle der Zeit, wie sie sich selbst als Erfüllerin der Zeit schaut“
(Niemeyer).
Und daneben rechts in der Landschaft die in die Zeitlichkeit
gestellte Mutter, ein Wesen von Fleisch und Blut, versenkt in das
Schicksal ihres Kindes, „Maria als Gestalt, als Weib, als irdische Voll*
zieherin des Gottesschicksals“ (Niemeyer). Schon diese Wahrnehmung
zeigt, daß die auf den ersten Blick so ansprechende Bestimmung der
rätselhaften Erscheinung als Maria in der Erwartung ihrer Geburt
nicht aufrechterhalten werden kann. Und von diesem Brennpunkt
aus erschließen sich dann in zahlreichen feinen Verknüpfungen die
reichen figürlichen, sachlichen, pflanzlichen Einzelheiten der Tafel zu
dem von der geistvollen nordischen Seherin geschauten Gesamtbilde der
Excellentia Virginis, der einzigartigen Stellung der heiligen Jungfrau im
Heilsplan. Verkündigung und Auferstehung schließen sich als Eck*
gedanken sinngemäß an, und auch die Kreuzigung fügt sich
— mit der sichtlich betonten Erscheinung der weißgewandeten Mutter
des Herrn als Schmerzensmutter — mühelos ein. Es waren nicht bloß
formale, sondern gedankliche Gründe, die diese — nur schein*
bare — Spaltung des mariologischen Themas veranlaßt haben, und man
steht nun erst recht staunend vor der überlegenen Begabung des
Meisters, der den beziehungsreichen, vielgestaltigen Inhalt des „Sermo
angelicus“ der heiligen Birgitta zu einer wunderbaren künstlerischen
Einheit zu verarbeiten wußte. Und wenn wir uns fragen, auf welchem
Wege Grünewald zu seiner nicht alltäglichen Vorlage kam, so werden