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V.
PHYSIOGNOMIE GLEICH IDENTIFIKATION?
EIN BEITRAG ZUR DISKUSSION
Seit dem 15. Jahrhundert entwickelte sich in Italien eine neue Auffassung von
Individualität. Diese sollte nicht als ein bloß abstraktes Bewußtsein des Menschen in seiner
Bestimmung als Individuum verstanden werden, sondern im Sinne einer konkreten
Selbstdefxnition als die Präzisierung des eigenen Standortes in einer Gesellschaft, die sich in
ihren wirtschaftlichen, politischen und kulturellen Strukturen so veränderte, daß die
Einzelperson in ihr eine neue, zunehmend differenziertere Rolle zu spielen vermochte. Das
Aufkommen des Porträts bildet den auffälligsten Ausdruck dieser neuen Auffassung der
Personalität535. Es liegt also nahe anzunehmen, und das geht bereits aus der vorangegangenen
Untersuchung hervor, daß der grundsätzliche Zweck des Bildnisses in der Vermittlung der
jeweiligen Funktion des Porträtierten im privaten oder öffentlichen Lebensbereich lag, jener
Funktion also, die den Menschen zwischen dem 15. und 16. Jahrhundert neu zu definieren
trachtete, und nicht vorrangig in der Verewigung des Dargestellten als seiner tatsächlichen,
nur physischen Erscheinung.
Das reine Ähnlichkeitsprinzip diente in der Porträtforschung dennoch lange Zeit als das aus-
schließliche Kriterium zur Definition des Renaissancebildnisses536. In den jüngsten
Untersuchungen hat sich diese Auffassung zum Teil relativiert, jedoch stehen sich für das
15. und 16. Jahrhundert immer noch zwei Thesen gegenüber. Die erste besagt, daß das Bild
des Menschen erst durch die Hinzufügung seines Namens oder eines anderen
unverwechselbaren Zeichens zum Porträt wurde, die zweite hingegen, daß die Ähnlichkeit
von Bildnis und dargestellter Person als das eigentlich konstituierende Moment des Porträts
anzusehen ist537. Hier ist die Forschung sich uneinig darüber, in wieweit die
physiognomische Übereinstimmung mit der tatsächlich existierenden Person als
Primäraussage und Ziel eines Porträts angesehen werden kann, oder ob sie lediglich als einer
der vielen, auf unterschiedliche Weise kombinierbaren Steine des Mosaiks diente, welches
die vom Porträtierten gewünschte Aussage über sich selbst bildete.
Es stellt sich also in der vergleichenden Auseinandersetzung mit den Porträtformen des
Quattro- und Cinquecento immer wieder die Frage, ob die Physiognomie im Porträt ohne
weiteres das wichtigste und unentbehrliche Instrument war, um die Identifikation des
Porträtierten mit seinem Bildnis, und eine Identifizierung der im Porträt dargestellten Person
533 Über die Koinzidenz bzw. die Diskrepanz von Bildnis- und Individuumsbegriff vgl. die Arbeiten von Boehm
(1985) und Giuliani (1986) sowie Jauss (1988).
536 Über die begriffliche Bestimmung des Porträts in der kunstwissenschaftlichen Literatur vgl. Lohmann-Siems
(1972), Winter (1985) S. 7-19; über die Kritik-Tradition in der Definition des Porträts als wahrheitsgetreuer
Abbildung vgl. Brilliant (1987), Brilliant (1991) S. 23-24; über das moderne Verständnis des Porträts als Geschichte
der Ähnlichkeit vgl. Cieri Via (1989) S. 49 ff.; für die Wichtigkeit des Ähnlichkeitprinzips im Spiegel
kunsttheoretischer Schriften seit der Renaissance vgl. Grassi (1961), Freedman (1987 a).
537 Zu diesen unterschiedlichen Standpunkten führten die Beiträge des Kolloquiums "The image of the Individual",
welches am 10.-11.3.1995 am Warburg Institute in London stattfand (vgl. Kunstchronik 2/1996, S. 61-64. Die
gesammelten Vorträge sollen in der Reihe ’British Museum Press’ erscheinen).
V.
PHYSIOGNOMIE GLEICH IDENTIFIKATION?
EIN BEITRAG ZUR DISKUSSION
Seit dem 15. Jahrhundert entwickelte sich in Italien eine neue Auffassung von
Individualität. Diese sollte nicht als ein bloß abstraktes Bewußtsein des Menschen in seiner
Bestimmung als Individuum verstanden werden, sondern im Sinne einer konkreten
Selbstdefxnition als die Präzisierung des eigenen Standortes in einer Gesellschaft, die sich in
ihren wirtschaftlichen, politischen und kulturellen Strukturen so veränderte, daß die
Einzelperson in ihr eine neue, zunehmend differenziertere Rolle zu spielen vermochte. Das
Aufkommen des Porträts bildet den auffälligsten Ausdruck dieser neuen Auffassung der
Personalität535. Es liegt also nahe anzunehmen, und das geht bereits aus der vorangegangenen
Untersuchung hervor, daß der grundsätzliche Zweck des Bildnisses in der Vermittlung der
jeweiligen Funktion des Porträtierten im privaten oder öffentlichen Lebensbereich lag, jener
Funktion also, die den Menschen zwischen dem 15. und 16. Jahrhundert neu zu definieren
trachtete, und nicht vorrangig in der Verewigung des Dargestellten als seiner tatsächlichen,
nur physischen Erscheinung.
Das reine Ähnlichkeitsprinzip diente in der Porträtforschung dennoch lange Zeit als das aus-
schließliche Kriterium zur Definition des Renaissancebildnisses536. In den jüngsten
Untersuchungen hat sich diese Auffassung zum Teil relativiert, jedoch stehen sich für das
15. und 16. Jahrhundert immer noch zwei Thesen gegenüber. Die erste besagt, daß das Bild
des Menschen erst durch die Hinzufügung seines Namens oder eines anderen
unverwechselbaren Zeichens zum Porträt wurde, die zweite hingegen, daß die Ähnlichkeit
von Bildnis und dargestellter Person als das eigentlich konstituierende Moment des Porträts
anzusehen ist537. Hier ist die Forschung sich uneinig darüber, in wieweit die
physiognomische Übereinstimmung mit der tatsächlich existierenden Person als
Primäraussage und Ziel eines Porträts angesehen werden kann, oder ob sie lediglich als einer
der vielen, auf unterschiedliche Weise kombinierbaren Steine des Mosaiks diente, welches
die vom Porträtierten gewünschte Aussage über sich selbst bildete.
Es stellt sich also in der vergleichenden Auseinandersetzung mit den Porträtformen des
Quattro- und Cinquecento immer wieder die Frage, ob die Physiognomie im Porträt ohne
weiteres das wichtigste und unentbehrliche Instrument war, um die Identifikation des
Porträtierten mit seinem Bildnis, und eine Identifizierung der im Porträt dargestellten Person
533 Über die Koinzidenz bzw. die Diskrepanz von Bildnis- und Individuumsbegriff vgl. die Arbeiten von Boehm
(1985) und Giuliani (1986) sowie Jauss (1988).
536 Über die begriffliche Bestimmung des Porträts in der kunstwissenschaftlichen Literatur vgl. Lohmann-Siems
(1972), Winter (1985) S. 7-19; über die Kritik-Tradition in der Definition des Porträts als wahrheitsgetreuer
Abbildung vgl. Brilliant (1987), Brilliant (1991) S. 23-24; über das moderne Verständnis des Porträts als Geschichte
der Ähnlichkeit vgl. Cieri Via (1989) S. 49 ff.; für die Wichtigkeit des Ähnlichkeitprinzips im Spiegel
kunsttheoretischer Schriften seit der Renaissance vgl. Grassi (1961), Freedman (1987 a).
537 Zu diesen unterschiedlichen Standpunkten führten die Beiträge des Kolloquiums "The image of the Individual",
welches am 10.-11.3.1995 am Warburg Institute in London stattfand (vgl. Kunstchronik 2/1996, S. 61-64. Die
gesammelten Vorträge sollen in der Reihe ’British Museum Press’ erscheinen).