über die Dichtkunst, 691
wo möglich/ auch rührend gemachte werden. Man will be-
weget und gerühret werden; man will Thranen vergießen.
Dieses Vergnügen, welches man beym Weinen empfindet,
ist so seltsam, daß ich mich nicht enthalten kann, darüber
eine Betrachtung anzustellen. Würde man wohl ein Be-
lieben daran tragen, jemanden, den man liebet, inderglei-
chen Umstanden zu sehen, worinnen sich Roderich im Cid
befindet, nachdem er den Vater seiner Geliebten umgebracht ?
Nein gewiß nicht! gleichwohl gefällt die außerordentliche
Verzweistung des Rodrigo, die Gefahr die er läuft, alles
was ihm am theuersten ist zu verlieren, eben um der Ur-
sache willen, weil die Zuschauer den Rodrigo lieben. Wie
kömmt es also doch immermehr, daß man von der Vor-
stellung einer Sache, auf eine angenehme Weife gerühret
wird, die uns betrüben würde, wenn sie wahr wäre?
§. z6. Das Vergnügen und der Schmerz, zwo so ver-
schiedene Empfindlingen, sind ihrer Quelle nach, nicht so
gar sehr unterschieden. Es erhellet aus dem Beyspiele des
KüßelnZ, daß eine vergnügende Bewegung, wenn fie zu
hoch getrieben wird, zu einem Schmerze gedeihet, und daß
die Bewegung des Schmerzens, wenn man sie ein wenig
mildert, ein Vergnügen wird. Eben daher kömmt es noch,
daß es eine gelinde und angenehme Schmermuth zieht: und
dieß ist ein geschwächter und geminderter Schmerz. Das
menschliche Herz liebt von Natur die Erregung; es schicken
sich aljo die traurigen Gegenstände, ja so gar die schmerzli-
chen Gegenstände recht wohl für dasselbe, nur daß fie durch
etwas versüßert werden. Es ist gewiß, daß aufder Schau-
bühne, die Vorstellung fast die Wirkung der Wirklichkeit
hat; allein sie hat sie doch nicht vollkommen. Man sey
von dem Schauspiele auch noch so sehr hingerissen, als mau
will; die Sinne und die Einbildungskraft mögen sich noch
eine so starke Gewalt über die Vernunft nehmen: so bleibt
doch allezeit im Innersten des Verstandes, ich weis nicht
was für ein Begriff von der Falschheit dessen, was mau
sieht. Dieser obgleich schwache und dunkle Begriff ist hin-
' Tr 2 länglich
wo möglich/ auch rührend gemachte werden. Man will be-
weget und gerühret werden; man will Thranen vergießen.
Dieses Vergnügen, welches man beym Weinen empfindet,
ist so seltsam, daß ich mich nicht enthalten kann, darüber
eine Betrachtung anzustellen. Würde man wohl ein Be-
lieben daran tragen, jemanden, den man liebet, inderglei-
chen Umstanden zu sehen, worinnen sich Roderich im Cid
befindet, nachdem er den Vater seiner Geliebten umgebracht ?
Nein gewiß nicht! gleichwohl gefällt die außerordentliche
Verzweistung des Rodrigo, die Gefahr die er läuft, alles
was ihm am theuersten ist zu verlieren, eben um der Ur-
sache willen, weil die Zuschauer den Rodrigo lieben. Wie
kömmt es also doch immermehr, daß man von der Vor-
stellung einer Sache, auf eine angenehme Weife gerühret
wird, die uns betrüben würde, wenn sie wahr wäre?
§. z6. Das Vergnügen und der Schmerz, zwo so ver-
schiedene Empfindlingen, sind ihrer Quelle nach, nicht so
gar sehr unterschieden. Es erhellet aus dem Beyspiele des
KüßelnZ, daß eine vergnügende Bewegung, wenn fie zu
hoch getrieben wird, zu einem Schmerze gedeihet, und daß
die Bewegung des Schmerzens, wenn man sie ein wenig
mildert, ein Vergnügen wird. Eben daher kömmt es noch,
daß es eine gelinde und angenehme Schmermuth zieht: und
dieß ist ein geschwächter und geminderter Schmerz. Das
menschliche Herz liebt von Natur die Erregung; es schicken
sich aljo die traurigen Gegenstände, ja so gar die schmerzli-
chen Gegenstände recht wohl für dasselbe, nur daß fie durch
etwas versüßert werden. Es ist gewiß, daß aufder Schau-
bühne, die Vorstellung fast die Wirkung der Wirklichkeit
hat; allein sie hat sie doch nicht vollkommen. Man sey
von dem Schauspiele auch noch so sehr hingerissen, als mau
will; die Sinne und die Einbildungskraft mögen sich noch
eine so starke Gewalt über die Vernunft nehmen: so bleibt
doch allezeit im Innersten des Verstandes, ich weis nicht
was für ein Begriff von der Falschheit dessen, was mau
sieht. Dieser obgleich schwache und dunkle Begriff ist hin-
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