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Die Form: Zeitschrift für gestaltende Arbeit — 6.1931

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Villon, Pierre: "Was ist modern?"
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https://doi.org/10.11588/diglit.13708#0022
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dann kann ich Ihnen darauf keine Antwort geben,
denn weder dieser Abend, noch zehn andere würden
dazu ausreichen. Dann müßte ich wie ein Konversa-
tionslexikon alles beschreiben, was heute lebt, das,
was am Absterben ist, ebensogut wie das, was im
Entstehen begriffen ist. In der Kleidung also sowohl
die Tracht der Nonne und das Abendkleid mit
Schleppe als auch das einfache Sport- oder Stra-
ßenkostüm und den Badeanzug. Im Bau sowohl das
heimatschützlerische Steildach als auch das Ter-
rassendach: sowohl das billige schlechte Serien-
fenster als auch das englische Eisenfenster.

Wenn wir aber unter modern nur das verstehen,
was unsere Zeit an zukunftswichtigen Dingen
schafft, dann kann man nur versuchen, darauf zu
antworten, denn es kann niemandem möglich sein,
heute genau zu prophezeien, was vollkommen ver-
schwinden und was bestehen bleiben wird. Man
kann nicht einmal ganz sicher behaupten, daß
das Vernünftige sich sofort durchsetzen wird, ob-
schon es sehr wahrscheinlich ist, daß es sich früher
oder später doch durchsetzt. Bei der heutigen wirt-
schaftlichen Organisation kann durch eine mächtige
und klug durchgeführte Reklamekampagne eine
Ware Absatz finden, welche weniger gut ist als eine
andere, die Reklame nicht benutzt oder nicht be-
nutzen kann, da ihre Hersteller wirtschaftlich nicht
stark genug sind.

In einem ganz ausgezeichneten Artikel, der im
Heft 8 1930 der ..Form" erschienen ist. beschreibt
Lewis Mumford, wie in den Vereinigten Staaten
sich die Tendenz geltend macht, neue Bedürf-
nisse künstlich zu schaffen, um neue Absatzmöglich-
keiten zu erschließen, daß die Automobilfabrikanten
neue Modelle mit zweifelhaften Verbesserungen her-
ausbringen und dafür sorgen, daß ihre Wagen in
schnellerem Tempo veralten, daß die Möbelfabri-
kanten, weil es ihnen schwer ist. durch qualitativ
niedrige Arbeit die Abnutzung zu beschleunigen und
dadurch die Absatzmöglichkeiten zu vergrößern, da-
nach streben, möglichst oft neue Formen zur Mode
zu machen. Daß sogar die Fabrikanten von Bade-
zimmereinrichtungen und Wohnküchen, die bisher
wirkliche Höchstleistungen der Industrie hervor-
brachten, anfangen, ihre Erzeugnisse in einen „Stil"
zu kleiden. Es ist also sehr gut möglich, daß gerade
die Erzeugnisse unserer Zeit, die so vernünftig sind,
so gut gearbeitet und so billig, daß man wirklich
glauben sollte, daß sie sich durchsetzen müssen,
künstlich zurückgedrängt werden, um das drohende
Gespenst der Überproduktion und der Arbeitslosig-
keit abzuwehren. Doch schafft dieser Weg sehr
wahrscheinlich auf die Dauer keine Abhilfe, da man
nicht verhindern kann, daß die maschinelle Produk-
tion noch mehr vereinfacht wird und noch weniger
Menschen zur Arbeit benötigen wird. Doch man kann
deswegen nicht einfach die Maschine zerstören und
so leben, als ob sie nie dagewesen wäre, das heißt,
ohne alles, was sie uns an Erleichterungen schafft,
sondern muß durch eine andere wirtschaftliche Or-
ganisation erreichen, daß der geringere Bedarf an
Arbeitskräften sich durch kleinere Arbeitszeit und
nicht durch Arbeiterentlassung ausdrückt.

Wenn es auch schwer ist, zu sagen, was von den
heute bestehenden Dingen sich weiter entwickeln
und verstärken wird, so ist es doch möglich, zu
sehen, welche Tendenzen heute stärker sind als

früher und ganz den Anschein haben, als ob sie sich
auch weiterhin verstärken würden. Da ist vor allem
die Freude am Leben im Freien. Man sehe sich doch
nur ein Foto von einem Badestrand um 1900 an und
vergleiche ihn mit einem von heute. Man zähle doch
nur nach, wie die Zahl und der Besuch von Bade-
anstalten und Freiluftbädern zugenommen -hat. Man
erinnere sich, wie die Menschen vor zwanzig Jahren
ihre freie Zeit ausnutzen. Man denke an den dama-
ligen Typus des Backfisches und noch besser lese
man in Romanen der achtziger und neunziger Jahre
nach, wie dieser Typus damals aussah. Und denken
Sie sich nun daneben das junge Mädchen von heute,
welches Sport treibt. Überlegen Sie sich doch, was
früher, nicht etwa vor zweihundert Jahren, sondern
vor einem Menschenalter der Arbeiter nach Feier-
abend tat. Man sehe sich die Statistiken über den
Rückgang des Alkoholismus an. Der Grund dafür
liegt nicht im Wirken der Antialkoholvereine, son-
dern in der Zunahme des Interesses für Sport. Wenn
man abends im Herzen von Paris auf der Jie St.
Louis spazieren geht, kann man fast täglich 18-
oder 20jährige Burschen bei Trainierungsrennen
sehen. Es handelt sich gar nicht darum, zu wissen,
ob es besser wäre, wenn diese selben Leute sich
mehr intellektuellen Beschäftigungen hingeben wür-
den. Es handelt sich nur darum, festzustellen, was
besteht und deswegen einen Einfluß hat auf die Ge-
biete, die uns hier interessieren.

Und diese Tendenz nach gesundem kraftvollen
Leben hat eine Rückwirkung darauf.

Ein Mensch, der Sport treibt, geht, steht und sitzt
anders als einer, der sich nicht bewegt. Es ist vor
allem nicht denkbar, daß ein sporttreibender Mensch
sich so getragen und steif benimmt, wie fast jeder
zu tun sich verpflichtet fühlte, der vor dem Kriege
es zu einer, wenn auch noch so kleinen Würde, ge-
bracht hatte. Man kann sich doch nicht vorstellen,
daß ein Mensch, der an jedem Wintersonntag Ski
läuft, in der Woche mit den schmalen langen
Schuhen herumgeht, die in meiner Kindheit noch
Mode waren, oder einen hohen Stehkragen trägt,
der es ihm unmöglich macht, den Kopf zu drehen.
Solche Menschen, die sich weniger steif benehmen,
brauchen auch andere Gegenstände um sich herum,
es paßt nicht mehr zu ihrem Wesen, daß jeder
Schrank ihre Macht und ihren Besitz symbolisiert.

Man sagt oft vom heutigen Menschen, er habe
keine Zeit. Im Gegensatz hierzu bemerkt Professor
Frank, daß er heute mehr Zeit haben müsse, weil er
früher viel mehr Zeit brauchte, um von seiner Woh-
nung bis zu seiner Arbeitsstätte zu kommen. Das
mag stimmen beim Bauern, aber es stimmt sicher
nicht beim Stadtbewohner, der heute durch die grö-
ßere Ausdehnung der Städte viel größere Wege zu-
rücklegen muß.

Abgesehen von den Weglängen spart man aber
doch Zeit. Das kann man feststellen, wenn man be-
denkt, wieviel Zeit man früher brauchte, um eine Öl-
lampe anzuzünden und ihr Brennen zu unterhalten,
oder um Holz zu sägen und ein Kaminfeuer zu be-
aufsichtigen, und daß man heute Licht und Heizung
durch einen einzigen Druck auf den elektrischen
Schalter in Gang setzen kann. Aber unser Maßstab
für Zeit hat sich inzwischen ebenfalls geändert, weil
wir eben gewohnt sind, daß alle Dinge, die die Tech-
nik geschaffen hat, gut und rasch funktionieren, kön-

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