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Münsterbau-Verein <Freiburg, Breisgau> [Editor]
Freiburger Münsterblätter: Halbjahrsschrift für die Geschichte und Kunst des Freiburger Münsters — 8.1912

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Kreuzer, Emil: Der leitende Grundgedanke des Bilderschmucks am Münsterhauptportal
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https://doi.org/10.11588/diglit.2636#0064
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Kreuzer, Der leitende Grundgedanke des Bilderschmucks am Münsterhauptportal

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'Maria, mit der „aus seinem Wurzelstock aufsteigen- Dieses Wort bezeichnet aber gerade die „Gleißnerei",

den Blüte", dem Jesuskind, und weiterhin das ganze die bewusste chikanöse Irreführung, die Vortäuschung

Bogenfeld umrankend und umrahmend. einer schönen Wahrheit, wo doch nur Falschheit und

Das Evangelium desQuatemberfreitagesberichtet, Tücke herrscht. Die „Calumnia" ist namentlich auch

wie erwähnt, den Gruß Elisabets: „Gebenedeit bist im Rechtsleben die „Vorspiegelung falscher Tat-

du unter den Weibern und gebenedeit ist die Frucht sachen", die Rechtsverdrehung. Dieses Wesen des

deines Leibes." Daran schließt sich bei Lk. 1, 46ff. Verführers durch Gleißnerei, wie es sich schon im

Marias Jubelhymnus, das Magnifikat, an: „Siehe, von Paradiese geltend gemacht hat, ist durch unsere

nun an werden mich selig
preisen alle Geschlechter;
denn Großes hat er mir getan,
der mächtig und dessen Name
heilig ist." Maria, durch die
der Erlöser und mit ihm das
Reich Gottes in diese Welt
eintrat, ist so die Pforte des
Himmels, Janua coeli, ge-
worden, und es kann in dem
Ideengang, in dem die Aus-
schmückung unserer Vorhalle
sich bewegt, für ihr Bild als
Gottesmutter demnach keinen
passenderen und bezeichnen-
deren Platz geben, als an der
Pforte zum Gotteshaus, dem
Bilde des Reiches Gottes, des
Himmelreiches.

Wird doch das Gottes-
haus selbst, wie erwähnt, in
dem Ritus der Kirchenkon-
sekration als„Himmelspforte"
bezeichnet; so wird Maria an
dieser Stelle geradezu zur
Personifikation der streiten-
den Kirche.

An dem dem Gerichts-
bilde gegenüberliegenden Por-
talbogen, der hinausführt in
das profane Leben, ist der
Gegensatz zu der Pforte des
Himmels dargestellt, die Ver-
suchung.

Der vorn reich geschmückte Jüngling mit der
Krone, auf dessen Rückseite ekles Gewürm herum-
kriecht, und seine Gesponsin sind deren Bild. Jener
ist der Verführer durch gleißnerische Überredung,
durch Einwirkung auf die Geisteskräfte, diese die
Verführerin durch Einwirkung auf die Sinne. „Ca-
lumnia" lautet die alte Unterschrift bei jenem1.

Abb. 8.

1 Vgl. Bock a. a. O. S. 7. Wenn auch nach Bock die
Aufschriften calumnia und voluptas „nach den Schriftzügen zu
urteilen frühestens gegen das Ende des 16. Jahrhunderts bei-
gefügt wurden", so schließt doch nichts aus, dass sie frühere

Freiburger Münsterblätter VIII, 2.

männliche Statue .treffend ge-
kennzeichnet: Gleißende Vor-
spiegelung trügt über ekel-
hafte und verderbliche Wirk-
lichkeit. Bock- hat das Wort
„Calumnia" unzutreffend, weil
zu eng, mit „Verleumdung"
übersetzt und deshalb bezwei-
felt, ob jene Bezeichnung die
ursprüngliche sei. Er hat aber
richtig erkannt, dass es sich
um die Gleißnerei handelt.
Die Verleumdung gehört aller-
dings auch unter den Begriff
der „Gleißnerei", aber sie er-
schöpft ihn nicht.

Die andere, weibliche,
Figur, nackt mit einem Bocks-
fell als Mantel, war mit „Vo-
luptas" bezeichnet. Sie stellt
ganz unzweideutig die Ver-
führung mittels Erweckung
der unreinen Sinnenlust dar.
Der Bock war von jeher das
Sinnbild der unreinen Be-
gierde. Die „Voluptas" ist die
echte Gesponsin und Helferin
des Vertreters der Calumnia.
Beide zusammen ergeben das
vollständige Bild der vom
Herrn, dem „Weg und der
Wahrheit" weglockenden Ver-
suchung nach deren beiden
wesentlichen Seiten. Ganz ent-
sprechend steht auf der Seite
des Gleißners der Engel mit der Warnung „Nolite
exire", der Warnung vor den falschen Christi und
den falschen Propheten, den Verführern durch gleiß-
nerische Predigt und Prophétie, und auf der Seite
der „Voluptas" der Engel mit der Mahnung „Ne in-
tretis" — in tentationem, der Warnung vor der „Ver-
suchung" durch die Sinne, gegen die einzig und allein
das Vigilare et orare, das Wachen und Beten hilft.

Inschriften wiedergaben. Jedenfalls geben sie genau die Bedeu-
tung dieser Statuen an.

- Bock a. a. O. S. 7 ff.

Postament der Statue des zweiten Königs
Martyrium Johannes' des Täufers.
 
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