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Füssli, Johann Rudolf; Füssli, Johann Heinrich [Editor]; Füssli, Johann Rudolf [Contr.]
Allgemeines Künstlerlexikon oder Kurze Nachricht von dem Leben und den Werken der Mahler, Bildhauer, Baumeister, Kupferstecher, Kunstgießer, Stahlschneider ... (2,7, Anhang): welcher das Leben Raphael Sanzio's, und die Litteratur von dessen Werken in sich faßt — Zürich: Orell & Füßli, 1814

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https://doi.org/10.11588/diglit.59570#0075
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I. Zeichnung.
Ueber Raphaels Zeichnung, und seine Absichten
bey der Wahl derselben, sagt er in der ersten Schrift,
substanzlich, was folgt:
„Raphael war nicht immer sich selbst gleich;
er fieng auch in der Kunst mit Lallen an, ehe er
seinen eigenen Willen recht aussprechen konnte. Er
hatte aber das Glück, in der Zeit der Unschuld
und wahren Kindheit der Kunst geboren zlr werden;
also lernte er im Anfänge nichts, als die pure
Wahrheit nachahmen. Diese brachte ihn zu einer
großen Richtigkeit des Auges, die ihm hernach zum
Grundsteine des herrlichen Baues seiner Kunst diente.
Damals wußte er noch nicht, daß eine Wahl
wäre. Erst als er zu Floren; die Werke des da
Vinci und M. Angelo's sah, wachte sein großer
Geist auf , über die bloße Nachahmung hinaus zu
denken. Die Werke jener Beyden hatten zwar
eine Art Wahl und Großheit; da sie aber nicht
schön genug an sich waren, konnten sie unserm
Künstler den sichern Weg nicht zeigen, auf welchem
er zur beßten ÄZahl gelangen konnte: Denn es ist
nicht genug, daß das, was Andern zum Muster-
dienen muß, an und vor sich gut ist, sondern es
muß solches überflüssig seyn. Er blieb also noch
einige Zeit in einer Art Dunkelheit, und gieng nur
mit wankenden Schritten fort. Als er aber end-
lich in Rom die Werke der Antiken sah, da fand
sein Geist zum erstenmal etwas, das mit ihm über-
einstimmte, und sein Genie anfeuern konnte. Er-
halte die Richtigkeit des Auges als einen festen Grund
geleget; es war ihm also nicht schwer, die Antiken
so nachzuahmen, wie er es vorhin mit der Natur
gethan; indessen verließ er die schöne Gewohnheit,
dieser letzter» zu folgen, nie, sondern lernte durch
die Antiken nur, aus der Natur zu wählen. Denn
er fand, daß diese nicht alle» Kleinigkeiten nachge-
hangen, sondern daß sie aus dem Schönen der
, Nacnr nur das Nothwendige auserlesen, und das
Ueberflüßige verworfen. Also erkannte er, daß
eine der Hauptursachen ihres Vorzugs in Befolgung
des richtigen Ebenmaaßes 392) bestehe; daher ver-
besserte er erstlich die Kunst in diesem Stücke. Eben
so erkannte er, daß in dem Baue des menschlichen
Körpers die Knochen und ihrer Gelenke die leichte
und bequeme Bewegung desselben hervorbringen 393)/
und daß daher die Alten auch auf diese den größ-
ten Fleiß gewandt. Dergestalt erforschte er die
wahren Ursachen der Schönheit der Antiken, und
begnügte sich nicht, wie cs nach ihm manche sonst
wackere Künstler gethan, an der bloßen äußern
Nachahmung derselben. Auch zweifle ich nicht,
daß, wenn Raphael die Gelegenheit gehabt hätte/
lauter idealische Figuren vvrzustcllen, er den -Wer-
ken der Antiken noch näher gekommen wäre; da
aber die Gebrauche seiner Zeit von denen der alten
Griechen sehr verschieden, und schon damals Vie
hohen Gedanken in niedrige verwandelt waren,
so konnte er, nach seinem höhern Geiste, in der
Kunst seiner Zeit nichts stnden, was ihn befriedigte,
als den Ausdruck. Diesen sand er ebenfalls theils
schon bey den Antiken, am meisten aber durch das
Studium der Natur; von jenen begnügte er sich,
die Hanptformen zu gebrauchen; weit öfter aber
wählte er im Leben das, was jenen am nächsten
kam, und ahmte dieses nach. Alsdann führte ihn
sein großer Geist weiter, bis zur Untersuchung der

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Bedeutung jeder Form insbesondere Dadurch er-
kannte er, daß gewisse Gesichtszüge auch ihren be-
stimmten Ausdruck hätten, und einem gewissen Tem-
peramente eigen wären; so auch, daß zu einem sol-
chen Gesichte eine gewisse Art Glieder, Hände nnd
Füße gehören. Diese fügte er mit größter Rich-
tigkeit zusammen, und bildete dadurch Gestalten,
die mit jenen Regungen übereinstimmend waren.
So oft er zur Uebung der Zeichnung schritt, dachte
er allemal von Neuem auf die Hauptsachen: Erst-
lich auf die Masse, folglich auf die Hauptformen,
hernach auf die Knochen und Gelenke, dann an
die Muskeln und Sennen; endlich bis auf die
Adern und Runzeln, da, wo es nöthig war; al-
lemal aber leuchteten die Haupttheile hervor; und
wenn je etwas an seiner Zeichnung abgeht, so ist
es nur das Unbedeutendste. Selbst seine gering-
sten Werke geben schon Zeugnisse seines Verstandes;
denn, wenn er auch nur mit wenig Strichen et-
was bezeichnet, so sind es gleich die Hauptsachen,
und was mangelt ist allezeit wenig, gegen dem,
was da ist; nur das Ueberfllüssige mangelt immer.
Jeder seiner Züge brückt das aus, was er soll:
Das Fleisch ist rund, die Sennen gerade, die Kno-
chen eckicht, jedes nach feiner rechten Eigenschaft,
und Alles wahr."
In der zweyten Schrift lesen wir über Ra-
phaels Zeichnung, fast noch ausführlicher, wesent-
lich Nächste hndes:
»Sanzio machte den Anfang mit einer trocknen
und sklavischen, aber doch ziemlich korrekten Zeich-
nung ; nachher erlernte er einen vollkommnern nnd
vollendeten Styl, wie man bey den Antiken vom
ersten Range antrisst, weil er im Ganzen genom-
men nicht die Kenniniß der wahren Schönheit hatte,
welche die Griechen besaßen. In den Charakteren
der Philosophen, der Apostel, u. ». Figuren dieser
Art ist er vortrefflich; seine Frauen hingegen sind
nicht graziöse genug, weil er ihnen allzurundlichte
(eonv6886) Umrisse gab 394). Dieses machte
solche Figuren gemein, und verschaffte ihnen ein
grobes Aussehn; wenn er aber diesen Fehler ver-
meiden wollte, so verfiel er in den noch schlim-
mer» , des Hartem Die Idealschönheit kannte er
nicht; daher war er in den zuerst genannten Fi-
guren vorzüglicher, als in den göttlichen. D. h.
leine Zeichnung enthalt vörderst alle die Umrisse,
die sich in der Natur finden; dann studirte er die
Antiken besonders in den Basreliefs, und erlangte
dadurch mehr einen Römischen als Griechischen Ge-
schmack Aus Viesen lernte er, Gelenke und Kno-
chen vorzüglich anzudeuten, und den fleischigten
Theilen einfachere und leichtere Contoure zu geben.
Sonst sind jene Basreliefs eben nicht vom beßten
Style des Alterthums, und das Schönste daran
die Symmetrie nnd das Verhältniß der Gliedmaaße
unter einander, was denn auch Raphael vorzüg-
licher, als kein anderer Maler verstand. Seinen
Figuren gab er nur die Länge von sechs Köpfen,
und doch scheinen sie so schön, als wenn sie dieje-
nige von achten hätten, was einzig von ihrem
richtigen Ebenmaaß abhängt; überhaupt sind sic
freyllch so elegant nicht, als die griechischen Statuen,
und ihre Gelenke nicht so zart, wie die am Lao-
koon, am Apoll, und am Fechter. Schöne Hände,
besonders von Frauen und Kindern, trifft man
bey ihm nicht an, da solche in der Natur wenig
gefunden werden, und an den Antiken selten mehr

Mann wie Mengs eigentlich über Raphnel gedacht und geurtheilt habe. Wahrhaftig em mühsames, und,
wenn es uns gelungen ist, vielleicht nickt unvcrdienstliches Geschäft, wobey uns Hrange's Verunstaltung
der ersten Schrift, so wie seine Ueberseyung der zwevlen, leider wenig Hülfe leisten konnte.
592) Die Urschrift sagt kurz, aber seltsam genug: In ihren Maaßregeln; Azar», in seiner Uebersetzmrg,
vielleicht ebenfalls zu kurz: „In der Zeichnung."
393) Die Urschrift sagt, ganz wunderlich: „Daß die Knochen und ihre Gelenke die Ursache ihrer (?) Srquemr
lichkeit waren.
394) ?
 
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