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Füssli, Johann Rudolf; Füssli, Johann Heinrich [Editor]; Füssli, Johann Rudolf [Contr.]
Allgemeines Künstlerlexikon oder Kurze Nachricht von dem Leben und den Werken der Mahler, Bildhauer, Baumeister, Kupferstecher, Kunstgießer, Stahlschneider ... (2,7, Anhang): welcher das Leben Raphael Sanzio's, und die Litteratur von dessen Werken in sich faßt — Zürich: Orell & Füßli, 1814

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https://doi.org/10.11588/diglit.59570#0076
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68 .
vorhanden sind; die seinigen sind daher meist ent-
weder zu dick oder zu mager. Wohl muß er fast
immer Kloß nach Erwachsenen gezeichnet haben,
da er seiueu.Kinderfiguren niemals die gehörige
Weichheit und jenes Milchsteisch zu geben wußte,
das ihrer Natur eigen «st; sonst bildete er diesel-
ben eben so ernst und aufmerksam, wie sie es bey
den Alten seyn mußten. Wo er etwa welche (und
zwar eben bloß die Kopfe) nach Modellen (wahr-
scheinlich nach Kindern armer und geringer Leuthe)
zeichnete, da sind sie immer unedel; wie z. B.
derjenige des Kinds in der Madonna della Seg-
giola, welcher sicher aus der Natur entlehnt, und
seine Physiognomie zwar sehr lebhaft, aber an
Adel und Schönheit weit unter den schönsten von
Titian ist 595). Ueberhaupt aber hatte Raphael
lange nicht jenen großen und edeln Styl, welchen
die Künstler der antiken Bildsäulen erreicht haben,
da er sich nämlich einbildete, es könne über Ken
Geschmack von M. Angelo nichts Größeres geben,
der, über dem Bemühen immer groß zu seyn, stets
ins Grobe verfiel, und, wenn er durch eine eon-
vexe Linie die Gränze des Natürlichen überschritt,
den Weg, wieder einzulenken, verlor 396). Diese
falsche Idee von Größe, die der junge Raphael
sich in den Kopf gesetzt hatte, verlor er zeitlebens
nicht ganz, und verfiel daher ins Carrikaturirte,
ward bey der Darstellung zartgebauter Körper hart,
n. gerieth bey den starken ins Uebertriebene seines Vor-
bildes 397). Daß er nicht wußte, was das Ideal
war, erhellet wohl am Beßten aus seinem Brief
an den Grafen Castiglione, worinu er sagt: Er
sey gezwungen, die Schönheit, die die er malen
wolle, sich einzubilden, und müsse daher befurchten,
daß sie nicht sehr gut ansfallen werde, weil zur
Darstellung einer großen Schönheit auch ein sehr
schönes Muster erforderlich sey. Hieraus erhellet
zugleich, daß er die Statüen der Antiken sich nicht
zu Nutze zu machen wußte, weil er alles Schune
in der Natur aufsuchte, und sich auf sein gutes
Talent verließ, daß er es finden würde. Nur in
den allgemeinen Marimen, und in dem was man
Praktik oder Manier nennen kann, folgte er den
Alten, nicht aber.in ihrer Schönheit und Voll-
kommenheit; in allen denjenigen natürlichen Din-
gen, die er bey ihnen antraf, war er vortrefflich;
in denen hingegen, die er bey ihnen nicht vvrfand,
reichte seine Einbildungskraft nicht zu, sie selbst
auszufinden".
„Das, was ich bisdahin gesagt habe, bezieht
sich indessen bloß auf die Form, und nicht auf Er-
findung noch Ausdruck, wovon ich nachher reden
werde."

sen heißt, hielt seine Lichter an den erhabensten
Stellen, sowohl bekleideter als nackter Figuren
beysammen, und brachte dadurch in seine Werke
eine solche Deutlichkeit, daß man (was so wichtig
ist) auch ganz von Ferne eine Figur gleich verste-
hen kann. Späterhin zu Rom, bey dem Anblicke
der Antiken, bevestnete er sich noch mehr in diesem
Geschmack, und lernte durch die Nachahmung der-
selben aus dem Grund, jedem Theil seine gehörige
Rundung zu geben. Weiter aber, und bis zum
Jvealischen gieng er hierin nicht, da er nämlich
auf Bedeutung und Wahrheit seine Hauptbemühung
richtete. Auf seine vördersten Figuren pfiegte er
die stärksten Lichter und Schatten so zu setzen, als
wenn alle Gewänder u. dgl. von Einer Farbe wä-
ren; das Licht trieb er hier bis auf das Weiße,
und alle Schatten bis auf. das Schwarze. Dieses
kam, neben Andern,, auch daher, baß er seinen
ganzen Gegenstand immer nach kleinen Modellen
zeichnete, wenig gemalte Scizzen machte 398), und
daher seine Bilder in solches Helldunkel setzte, als
waren sie alle nach Statüen schattirt; nämlich, je
naher sie dem Auge waren, desto starker bildete er
sie von Licht und Schatten; je entfernter, desto
schwächer. Dieses haben dre größten Meister im
Helldunkel nicht gethan, und ist Raphael in die-,
sem Stück nicht allezeit zu folgen, sondern vielmehr,
dem Correggio."
^Jn der zweyten Schrift dann lautet es über den
nämlichen Gegenstand so:
„Wo, und wenn man Licht und Schatten anbringen
müsse, dieses verstand Raphael sehr gut; nur das
Ideale davon kannte er nicht, sondern hatte diesen
Theil der Kunst nur so weit in seiner.Gewalt, als
er zur Nachahmung hinlänglich ist. Einen gewis-
sen Schein von jenem bemerkt man zwar ebenfalls
in allen seinen Werken; allein man sieht, daß es
nicht die Wirkung einer festen Methode, sondern
des Zufalls, und in der Lebhaftigkeit seines natür-
lichen Geschmacks gegründet war. Sein System
bestand darin, daß er sich seine Gegenstände, in
Vor-und Hintergründen, so vorstellte, als wenn
alle Figuren in Weiß gekleidet wären. Au dem Ende
verspendete er die höchsten Lichter dahin, wo sie
seiner Meinung nach seyn sollten, und ließ sie von
da aus stuffenweise abnehmeu bis nr die weiteste
Entfernung. Daher sieht man in seinen Vorder-
gründen viel weiße oder gelblichte, kurz lichte Drap-
pcrien. Dieser Grundsatz war ihm und der Fio-
rentinischen Schule eigen, da hingegen die Lom-
barden u. a. gute Cvloristen auf solchen Stellen
allzeit ganze Farben, Roth, Gelb und Blau ge-
brauchten, welche die Augen mehr an sich ziehen
als die weißlichten, indem das Weiße ihnen stets
etwas Luftartiges mittheilt, und ihre Lebhaftigkeit
dadurch vermindert. Außerdem hatte Raphael
noch eine fehlerhaftere Maxime: Daß er nämlich
auf Gewänder, die ihrer Natur nach von reiner
Farbe seyn mußten, ein gleich Helles Licht ausbrei-
tete — auf die blauen zumal, wie man z. B. au
seinem Apostel bemerkt, welcher auf dem Vorgrunde
der Verklarung sitzt, dessen Lichter ganz weiß sind,
was doch nach den starken Schatten und Halbschat-
ten, die er ihm gab, nicht seyn konnte. Die näm-
liche Regel dann beobachtete er bey den dunkeln
Stetten, setzte den stärksten Nachdruck vorne au,
und dämmte hierauf solche stuffenweise bis dahin,
wo sie sich mit den Lichtern einigen 399). Diese

II. Helldunkel.
„Raphael kannte anfangs das Helldunkel nicht, an-
ders als aus der Nachahmung, indem er nur die Na-
tur kopirte. Da aber die Nachahmung ohne Wahl
nichts Schönes hcrvorbringen kann, so waren auch
seine Werke in diesem Kunsttheil ohne alle Schön-
heit. Erst als er nach Florenz kam, und die Werke
des Fra Bartholomen und Masaecro sah, fand er,
daß es eine Grvßheit in Licht und Schatten gebe;
daß z. B. auf einem erhabenen Gliebe keine starke
Falten, noch andere Dunkelheiten stehen dürfen,
die es zerschneiden. Jetzt fieng er an, nicht mehr
ohne Unterschied nach dem Leben zu arbeiten, son-
dern suchte dasjenige zu erreichen, was man Mas-
395) Aber, man sehe z. V. das Kind in der Madonna, der Gärtnerin; und man wird sicher obigem Urtheil
seine gehörige Einschränkung geben.
396) Hievon werden dann weiter sehr angemessene Veyspiele gegeben, die aber hier nicht zu unserm Vorhaben
gehören.
397) Bey dieser — wohl auch tüchtig übertriebenen Behauptung traut man wahrlich seinen Augen kaum.
398) „Nicht zwei)", heißt es an einem andern Orte.
399) Dieses lektere verstehen wir zwar wohl, sehen aber nicht, wie solches nach der nämlichen Maxime geschehen
seyu sollte, die er (wie wir so eoen vernommen) bey den lichten Stellen befolgte.
 
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