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Füssli, Johann Rudolf; Füssli, Johann Heinrich [Hrsg.]; Füssli, Johann Rudolf [Mitarb.]
Allgemeines Künstlerlexikon oder Kurze Nachricht von dem Leben und den Werken der Mahler, Bildhauer, Baumeister, Kupferstecher, Kunstgießer, Stahlschneider ... (2,7, Anhang): welcher das Leben Raphael Sanzio's, und die Litteratur von dessen Werken in sich faßt — Zürich: Orell & Füßli, 1814

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https://doi.org/10.11588/diglit.59570#0087
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sien rrm 426): Dieser ist das anmuthigste Bild
jugeudlicher Gutmüthigkeit, Unschuld und Einfalt,
blühend von Farbe; lichtbraune Locken hangen ihm
von der Scheitel herab; er sieht bewegt und er-
staunt zu, und öffnet die Lippen, wie zum Spre-
chen und dem arldern zu antworten. Der dritte
ist junger, noch kaum über die Jahre der Kindheit
hinaus und hat den ungemischten Ausdruck von
Anfmerken und Begierde zu sehen was vorgeht:
Der nächste hat am me-sten Jahre und Unterricht;
die Hand auf der Brust, scheint er die Hostie zu
verehren, und das Wunder gläubig anzuschauen."
„In dem Haufen des Volks, womit die Mo-
tive allgemeiner und einförmiger sind, ist die Ab-
wechslung und zarte Verschiedenheit des Ausdrucks
noch mehr bewundernswerth. Von den beyden
Mannern, welche erhöhet auf einer Art Bühne
stehen, macht einer den andern auf das was ge-
schieht aufmerksam; dieser überlegt mit tiefem Nach-
denken. Unten drückt eine Figur, von deren Ge-
sicht man wenig sieht, mit aufgehobener Hand,
ihre Verwunderung aus: Ein.Jüngling mit schlich-
ten ganz schwarzen Haaren, und etwas starken
Kolorit, als ob er viel der Sonne ausgesetzt ge-
wesen, ehrlich, überaus sanft und gutmüthrg, schlägt
sich gläubig, mit der einen Hand/ die Brust/ in
der andern die Mütze haltend; er giebt der Hand
eines äußerst Verwunderten, der hinten ihm steht,
laut wird, und aufschreyt, nach, da ihm derselbe,
um besser sehen zu können/ den Kopf auf dre
Seite schiebt; über die Schulter des letztem schaut
wieder eiu Anderer, mit äußerster Aufmerksamkeit,
herüber, neugierig auf das was geschieht, und
hält sich an seinen Bormann an. Ein Bauer mit
kurzem Bart und schlichten, an den Enden gelock-
ten Haaren, dessen starke nervigte Arme, hohe
Backenknochen, eingefallene Muskeln, nebst dem
Gewand seinen Stand anzeigen, betet an. Eine
alte Frau halt, bewundernd, bepde Hände empor,
und ist im Begriff sie zusammen zu schlagen. Eine
mit beynahe ganz verhülltem Gesicht, welche nicht
sehen kann, betet mit zusammengehaltenen Händen.
Die vorderste stehende weibliche Figur, ganz Ein-
falt und Gemüth, schlägt ebenfalls die Brust und
ruft den Herrn an. Eine von den Frauen, welche
unten auf der Erde sitzen, drückt ihren Säugling
mit unaussprechlicher Liebe und Inbrunst an sich,
ihr Kuß ist ganz Seele; sie möchte den Liebling
und sein ganzes Wesen gleichsam in ihr Herz auf-
nehmen. Die andere halt ihr etwas größeres
Kind ebenfalls mit beyden Händen an sich, und
wendet sich nach zwei) kleinen Knaben um, die
schön sind, hold wie LieblingLgötrer, und einander
umarmt halten."
„Wenn man alle diese zarten Abstnffnngen ei-
ner einzigen Leidenschaft betrachtet, welche die Ur-
sache der Bewegung und Handlung in diesem Bilde
ist, so wird man mit Verwunderung über den Ver-
stand und das große Talent des Malers erfüllt
werden, der, wie ein geschickter Gärtner, alle
Theile seines Bodens aus einer einzigen Qnelle
nach mannigfaltiger Absicht und Bedürfnis' befeuch-
tet und fruchtbar zu machen weiß. Vielleicht dürfte
man über dieses noch zu behaupten wagen, unser
Künstler habe in jeder Figur, aus denen das be-
schriebene Bild zulammengesetzt ist, einen ganzen
Stand der menschlichen Gesellschaft reprasentiren
wollen; denn es ist keineswegs unwahrscheinlich
oder übertrieben, sich seine Gedanken so tief und
seinen Geist so umfassend zu denken. Wir sehen
ja, daß die meisten Figuren auch in der Schule
von Athen, über das was sie im Bilde wirklich

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sind und darstellen, noch eine weitere Beziehung
haben. Charakter, Handlung, Stellung, manch-
mal sogar Nebenwerke erinnern uns an ihre Lehre,
Leben und Schicksale 427). Eben derselbe tiefein-
dringende Sinn hat auch in der Disputa gewirkt,
und den Parnaß belebt; nnr ist er dort ernster,
hier aber heiterer und poetischer, wie der verschie-
dene Gegenstand es erfordert. Der Ausdruck in
Raphaels Werken ist allemal der Handlung genau
angemessen, nie fratzenhaft übertrieben, immer wahr,
ober doch wenigstens wahrscheinlich; wie ein unse-
rer Proteus tritt er in tausend verschiedenen Ge-
stalten auf, ernst, zärtlich, empfindsam, schwach,
weise, kühn, ein Heid bald und bald ein Schäfer.
Brs zu den obersten Stufen der Menschheit, selbst
zu den Engeln empor, tragen ihn die Flüge! seines
Genius; und wenn er es bedarf, so laßt er sich
wieder bis zu den Bettlern und Elenden in die
Hütten herab, vergißt seines Zweckes nie, und nie
der Würde; selbst die niedrige Natur wird bey
ihm nicht verächtlich oder niederträchtig. Jeder
kleine Umstand i^ mit Klugheit benutzt; der Ge-
müthszustand semer Figuren offenbaret sich nicht
nur aus dem Gesichte, oder der Handlung, sondern
wirkt und breitet sich durch alle Glieder und Gl-e-
desglieder aus. '
„Raphaels Kunst läßt uns fast in allen ihren
Theilen ein Fvrtschresten bemerken, und so ist auch
einige Abänderung im Charakter seines Ausdrucks.
In den Werken aus der frühern Zeit ist er rein,
natürlich und von der strengsten Wahrheit; als er
aber weiter gekommen war, und ans.eng dre Wir-
kung, oder das Wahrscheinliche zu suchen, da er-
laubte er sich mehr, und jene Gränze der strengen
Wahrheit wurde zuweilen ein wenig übertreten.
In der Disputa über das Sakrament sehen wir
die Menschen mit Neigungen und Leidenschaften,-
wie im Spiegel, ganz so wie sie sind, wie sie lei-
ben und leben; man befindet sich in der wirklichen
Welt. Der Parnaß ist hingegen ein poetisches
Land, etwas gemächlich Zärtliches; eine milde
Schwärmerei) verbreitet sich über das ganze Bild;
die Figuren nähern sich einander in Sitte und Nei-
gungen, als wenn sie Alle zu einer Familie gehör-
ten , aus Einem Stamme entsprossen wären. In
der Schule von Athen haben sie wieder mehr Ver-
schiedenheit, vom Streit der Mepnungen, den
Unterschied der Begriffe erzeugt; doch herrscht
darinn die Übereinstimmung, welche eine Gesell-
schaft von cultivirten Menschen zu verbinden pstegt,
und heftige Leidenschaften sind in diesem Werk nicht
gebildet. Verglichen mit der Disputa ist der Aus-
druck hier zwar überhaupt eben so natürlich, aber
von edlerer Art, so wie auch der Sinn und Styl
des ganzen Werks freundlicher und schöner ist; u.
s- s. ». f."
„ Auf diesem Wege der Betrachtung ist es auch,
wie wir glauben, am leichtesten möglich, alle Werke
des Raphael, jedes nach seinem eigenthümlichen
Verdienst, schätzen zu lernen; denn es geschieht
oft, daß Kenner und Künstler die Bilder der so-
genannten zweyten Manier, das ist diejenigen,
welche Raphael kurz vor seiner Ankunft in Rom
und in den ersten Jahren seines Aufenthalts da-
selbst gemalt, den spätern, von der sogenannten
dritten Manier, vorziehen und vorgezogen wissen
wollen. Diesem Mißgriff setzt man sich dadurch
aus, wenn unbedingt ein Bild gegen das andere
verglichen wird ; unsere Neigung entscheidet als-
dann nicht selten da, wo nur der Verstand das
Urtheil sprechen sollte. In jenen frühern Werken
bezaubert unser Künstler durch die Grazie des

426) Rapbael scheint sich zwischen diesen beyden Figuren ein näheres Verhaltniß gedacht zu haben; entweder
Brüder oder innige Freunde.
427) Wir sehen den erhabenen etwas schwärmerischen Plato nach der Höhe zeigend; den beweisenden, kühlen Ari-
stoteles; den Sonderling Drogen für sich einsam sitzend; den sinnenden Epiktet, mit seinem einst zerbrochnen
Beine;, den unterrichtenden Sokrates, den lehrhegierlge» jungen Alerauder, den eleganten Alcibiades, den
strengen, erfindenden Pythagoras u. s. f. u. f.
 
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