Universitätsbibliothek HeidelbergUniversitätsbibliothek Heidelberg
Überblick
loading ...
Faksimile
0.5
1 cm
facsimile
Vollansicht
OCR-Volltext
164 Tafel 90 Die Medeavase in München

als die fremde Barbarin im orientalisierenden Kostüm, mit einer gezackten phrygi-
schen Mütze, hat ihren Knaben, der auf einen Altar geflohen war, am Schöpfe
gepackt und wird ihn mit dem Schwerte durchbohren. Zu spät eilt Jason (Taacov)
mit Schwert und Lanze herbei, gefolgt von einem Diener (Doryphoros). Doch ein
zweiter getreuer Diener hat inzwischen wenigstens den einen Sohn vor der rasenden
Mutter in Sicherheit gebracht; er fasst ihn am Schöpfe und führt ihn eiligst hinaus:
er wird gerettet. Am anderen Ende des Bildes steht noch die merkwürdigste Figur
des Ganzen, ein König in der üblichen Bühnentracht, mit der Beischrift etocoAov
'Anrou Schattenbild des Aetes; er ist im Heranschreiten nach der Mitte zu
gebildet; die vorgestreckte Rechte begleitet offenbar eine eindringliche Rede. Aetes
ist der Vater der Medeia. Er erscheint hier in dem Augenblick, wo seine Tochter
zur Kindsmörderin wird.

Oben rechts und links von dem Palaste erscheinen ruhige göttliche Zuschauer:
links Herakles in einem beliebten statuarischen Typus, der auch auf anderen unter-
italischen Vasen dieser Epoche erscheint;1) dann Athcna, den Helm auf der Hand,
wie sie auf diesen Vasen so gerne erscheint. Rechts sitzen, von zwei Sternen be-
gleitet, die beiden Dioskuren mit Gerät der Palästra (Ölflasche und Strigilis) in
den Händen. Den Abschluss bildet beiderseits je'eine korinthische Säule mit einem
Dreifuss darauf, ein Anathem, wie es für choregische Siege in den Dionysos-
heiligtümern üblich war.

Wie diese zur Raumfüllung dekorativ angebrachte Einzelheit uns an das
Theater erinnert, so steht das ganze Bild ohne Zweifel, wie man längst erkannt hat,
unter dem Einflüsse einer Tragödie. Doch welcher, darüber sind die Meinungen geteilt.

Euripides hat die Kindsmörderin Medea geschaffen,2) und seine Medea war
von der ungeheuersten Wirkung. Allein dies schloss nicht aus, dass nicht zahlreiche
andere Dichter sich an dem gleichen Stoffe versuchten. Uns sind von diesem einstigen
Reichtum nur die Namen der Dichter, die Titel ihrer Medea-Dramen und ein paar
Fragmente erhalten. Ohne Zweifel haben diese Stücke in poetischem Werte an das
Meisterwerk des Euripides nicht herangereicht; allein dies schloss wieder durchaus
nicht aus, dass sie zu ihrer Zeit und in ihrem Kreise beim Publikum sehr beliebt
gewesen wären. Als freilich die spätere Zeit das Klassische aus dem Minderwer-
tigen herauszuschälen begann, da verschwanden alle die anderen' Medeen und ver-
sanken in Vergessenheit, und nur die eine überragende klassische, die in die Aus-
wahl der Werke des Euripides aufgenommen ward, blieb uns erhalten; ausser ihr
nur ein rhetorisches Produkt der Kaiserzeit, die Medea des Seneca.

In der Überzeugung von der dichterischen Bedeutung des euripideischen Stückes
und seiner vorbildlichen Wirkung auf alle anderen Behandlungen des Stoffes hat
man nun in neuerer Zeit auch angenommen, dass unsere Canosiner Vase nur auf
Euripides basiere und dass alles, was auf der Vase von Euripides abweicht, nur
von dem Vasenmaler aus künstlerischen Gründen verändert worden sei.3)

Diese Meinung hält einer unbefangenen Prüfung nicht stand; eine solche
führt vielmehr zu dem unabweislichen Resultate, dass hier nicht Euripides, sondern

*) Vgl. meine Ausführungen in Roschers Lexikon I, 2171, 24.
') Vgl. v. Wilamtmitt, griech. Tragödien Bd. III, S. 161 ff.

3) Der Hauptvertreter dieser Ansicht ist C. Robert (a. a. 0.); Stutdilstm folgt ihm, bringt aber
nichts Neues, sondern tritt nur breit, was Robert schon gesagt hat.
 
Annotationen