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Tafel go Die Medeavase in München 165

eines jener vielen anderen, den gleichen Stoff behandelnden jüngeren Dramen zu
gründe liegt.

Die Abweichungen von Euripides sind nämlich nicht künstlerisch formaler,
sondern rein stofflicher Natur; sie können nur auf einer verschiedenen Gestaltung
des Stoffes beruhen.

Bei Euripides besteht das Geschenk der Mcdca an die Kreonstochter aus
einem Peplos und einer Krone, und der erstere wirkt ebenso stark wie letztere
gleich fressendem Feuer. Auf der Vase bringt nur die Krone, die in dem Schmuck-
kästchen war, das Unheil; und das gleiche ist uns durch literarische Überlieferung
(Hygin fab. 25), als eine bestehende offenbar einem nacheuripideischen Drama ent-
lehnte Variante der Sage bekannt. Bei Euripides ferner ist der Vater Kreon allein
anwesend bei dem Unglück und kommt bei dem Versuche der Rettung selbst um;
auf der Vase bleibt er ungefährdet, und es greifen noch andere Personen in die
Scene ein; den Versuch der Rettung macht hier der Bruder des Mädchens, der
Hippotes heisst. Der kommt bei Euripides gar nicht vor; hier aber fällt ihm eine
nicht unwichtige Rolle zu. Hippotes, als Sohn des Kreon, ist aber keine willkür-
liche Erfindung eines Vasenmalers. Aus Diodor (4, 55, 5) wissen wir, dass in
gewissen mythologischen Überlieferungen Hippotes als Sohn des Kreon vorkam. Das
Vasenbild führt ferner Merope als Mutter der Braut und Gattin des Kreon ein; diese
Figur kommt weder bei Euripides vor noch in unserer sonstigen Überlieferung;
allein freie Erfindung des Vasenmalers ist auch sie gewiss nicht. Zwei andere
Königinnen von Korinth, die Gemahlin des Sisyphos und die des Polybos heissen
in der Sage Merope. Der Name passte daher dem unbekannten Dichter, der hier
zu gründe liegt, auch für die Gemahlin des Kreon.

Noch wichtiger und entscheidender sind die in der unteren Figurenreihe zu
tage tretenden Unterschiede von Euripides. Vor allem ist hier ganz zweifellos und
klar dargestellt, dass ein Sohn der Medea — den wir Medos nennen dürfen — gerettet
wird. Der Künstler würde niemals darauf verfallen sein, den Diener zu "malen, der den
einen Knaben birgt und wegführt, wenn er nicht sagen wollte, dass dieser gerettet
wird. Also muss ihm eine von der euripideischen verschiedene Sagenversion vor-
gelegen haben; denn bei Euripides entkommt keines der Kinder. Wiederum be-
sitzen wir aber auch hier in der sonstigen Überlieferung den Beweis, dass jene
andere Version tatsächlich existierte; Diodor überliefert sie ausdrücklich (4, 54, 6
JiÄnv yetp evöc toü 6tacpirYÖvro<; zobe, i!t.\\ouq uloüc ÄTTOöcpctÜxu}.

Ferner ist die Hauptfigur der unteren Reihe, die grossartig wirkungsvolle
Gestalt des Oistros gewiss vom Theater entlehnt. Dem Euripides ist sie gänzlich
fremd. Allein Pollux, 4, 142, fuhrt unter den besonderen Theaterfiguren auch den
Oistros auf. Gewöhnlich fasst man ihn als die Personifikation der Raserei der Medea.
Allein damit ist nicht erklärt, warum Oistros als der Lenker des Schlangenwagens er-
scheint, mit dem Medea davonfahren wird, warum er also der Begleiter ihrer Flucht
ist. Hätte nur jener Gedanke, die Raserei der That der Medea ausgedrückt werden
sollen, so würde man eine Gestalt im Typus einer Erinys, eine Lyssa erwarten, die
neben Medea stände und sie anfeuerte. In einem Chorgesangc von Sophokles' Ödipus
Tyr. (477 ff.) wird geschildert, wie der Verbrecher nach der That flieht, wie ein rasender,
von der Bremse (olcrpoc;) verfolgter Stier, um dem nahenden Strafverhängnis zu
entgehen. So wird Oistros hier, der Medea in den Wagen aufnimmt, die Peinigung
■ bedeuten, welche die Kindsmörderin nach der That erwartet; von Oistros begleitet
 
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