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i66 Tafel go Die Medeavase in München

d. h. wie von einer Bremse gestochen, rastlos und gequält wird Medea entfliehen.
Dies muss der Gedanke gewesen sein in dem Drama, das Oistros als Wagenlenker
der Medea einführte. Euripides ist dies alles fremd, und der Vasenmaler hat dies ganz
sicher nicht erfunden.

Endlich das Schattenbild des Aietes. Es vervollständigt und erweitert nur
die Idee, die der Oistros ausdrückt. Der Schatten des Vaters steigt vor Medea auf:
es sind die bittersten Vorwürfe, die sie treffen, die des Vaters; es ist die Peinigung
der Reue in dem Bilde des Vaters verkörpert; es ist der sichtbar und zur Person
gewordene Stachel des Oistros.

Dies Eidolon, eine echte Theaterfigur, ist nun offenbar wieder keine Erfin-
dung eines Malers, sondern die eines Dichters, die der Maler darstellt. Künstlerisch
wirkt die Figur nur unvollkommen; sie ist nur noch gerade untergebracht auf dem
Bilde; untergebracht, weil sie eben zu dem Stoffe gehörte, den der Maler darstellen
wollte; eine künstlerische Berechtigung kommt der Figur gar nicht zu.

Bei Euripides fahrt Medea stolz auf dem Helioswagen davon (dass es ein
Drachenwagen sei, ist nirgends angedeutet); sie ist froh in der Befriedigung ihrer
Rache, und sie hat sich eine ruhige Zufluchtsstätte bei König Aigeus in Athen
gesichert. Zwar flucht Jason der Mörderin; aber keine Andeutung spricht davon,
dass sie Reue empfinde oder empfinden werde, oder dass jemals eine Strafe ihrer
Frevelthat folgen werde. Das ist gross, aber hart. Und es lässt sich leicht denken,
dass ein späterer Dramatiker, den gewöhnlichen Vorstellungen folgend, die Strafe
für den Frevel verlangten, einen anderen Schluss gedichtet hat, darin die Qual der
Reue angedeutet ward, welche die Mörderin erwartet, darin der Schatten des Vaters
ihr erscheint und ihr die Unthat vor das Gewissen führt, und wo der peinigende
Oistros der Lenker ihres Wagens ward, der ihre Flucht begleitet und der verhin-
dert, dass sie jemals Ruhe findet.

So hilft uns das Vasenbild, die Gedanken eines unbekannten Dichters zu
rekonstruieren. Wenn auch gewiss an poetischem Werte weit unter Euripides stehend,
so war seine Schöpfung doch gewiss rür das breite Publikum recht wirkungsvoll;
und zu diesem Publikum gehörte auch unser Vasenmaler. Der Schatten des Aietes
war sicherlich eine sehr rührende Figur, und er wird der Frevlerin so recht ins
Gewissen gesprochen haben. Und dass Reue und Strafe der Verbrecherin ange-
deutet ward, hat gewiss dem Publikum gefallen, das immer gerne sich auf den
Standpunkt des Moralphilisters stellt. Des Euripides Medea wagte es, die Leiden-
schaft und die Rache des gekränkten Weibes bis in alle ihre Konsequenzen zu
verherrlichen. Allein moralisch rührende Dramenschlüsse waren allzeit mehr im
Geschmack der breiten Masse.
 
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