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Ganz, Paul Leonhard
Das Wesen der französischen Kunst im späten Mittelalter (1350 - 1500): ein Versuch — Veröffentlichungen zur Kunstgeschichte, Band 2: Frankfurt am Main: Prestel, 1938

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https://doi.org/10.11588/diglit.62989#0071
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Die Vorstellung der wirklichen Welt, die Art,
wie diese im Menschen enthalten ist, bildet sich
nach der umgebendenWirklichkeit. Die Umgebung
prägt den Menschen als Ganzes in den Tiefen sei-
nes Charakters und wird rückläufig aus dieser in-
neren Prägung heraus selbst wieder erschlossen.
Der Franzose tritt als zufriedener Bewohner eines
glücklichen Landes der umgebenden Welt mit der
Selbstverständlichkeit des Verwöhnten gegenüber.
Eine dankbare und zuverläßliche Natur vermittelt
ihm innere Ausgewogenheit und Beständigkeit und
erteilt ihm die Berechtigung, sich selbstsicher über
alles Geschehen zu erheben. Mit einer klaren Ver-
nunft erfaßt er das Bestehende und seine Wand-
lungen und ordnet es einer einheitlichen Vorstel-
lung ein. Der Regelmäßigkeit und Begrenztheit
der ihn umgebenden Welt entspricht eine ge-
schlossene und abgeklärte Vorstellung. Der fran-
zösische Mensch ist überzeugt, ohne nach Be-
weisen suchen zu müssen. Alle Abweichungen im
Ablauf der Geschehnisse und alle Besonderheiten
sind ihm Ausnahmefälle, die er als solche ansieht,
und die ihm die Norm nur bestätigen und wün-
schenswerter machen. Er wird durch die Wirklich-
keit selbst gewöhnt, sie zu übergehen, denn sie be-
einflussen den festen Bestand der Gegebenheiten
nicht. Die Dauerhaftigkeit, die in seiner Vorstel-
lung den verschiedensten Größen anhaften, erlaubt
es, feste Beziehungen zwischen denselben zu knüp-
fen. Durch die gemeinsame Bindung wird Wesent-
liches über Unwesentliches gestellt, die Werte wer-
den gestuft; es entstehen feste Begriffsreihen. Allen
abgeklärten und in der Vorstellung befestigten
Dingen gegenüber wahrt der Mensch einen gewis-
sen überlegenen Abstand; mit der Lösung schwin-
det die bindende Problematik. Der Franzose fühlt
sich seiner Umgebung und allen sich aus ihr er-
gebendenAnforderungen gewachsen; er beherrscht
sie und verfügt frei über sie.
Diese Vorstellungen der «Wirklichkeit» sind es,
auf denen sich die neue «nachahmende» Darstel-
lungsweise des 14. Jahrhunderts in Frankreich auf-
baut, und die ihr die Richtung geben. Doch soll die
Kunst nicht nur bloßes Abbild der Wirklichkeit
sein. In ihr, als einer menschlichen Schöpfung,
kann die klare Ordnung noch besser verwirklicht
werden, als sie es in der Natur schon ist. Das Ideal,
das aus der Natur abgeleitet ist, sucht der Künstler
in seinem Werk frei von allen Zufälligkeiten zu ge-

stalten. Nochregelmäßiger, noch untadeliger,noch
stärker vollendet als der göttliche Kosmos soll der
selbstbewußt geschaffene eigene Kosmos sein. Die
Erscheinungswelt geht umgebrochen durch die ord-
nende Vorstellung des Menschen und Künstlers in
die Darstellung ein. Der Abstand zwischen wirk-
licher Welt und idealer Bild weit wird durchaus be-
tont. Das Kunstwerk soll eine Welt für sich sein,
mit eigenen, menschlichen Gesetzen, nur «Ab-bild»
und doch Vervollkommnung des Vorbildes. Seine
Eigenschaft als unabhängige und für sich bestehen-
de Neuschöpfung und Umschöpfung wird in den
Vordergrund gestellt. Aber dennoch gehen seine
Gestaltung und Erfassung auf die gleiche Einstel-
lung zurück, die zu den Geschehnissen des Lebens
eingenommen wird. Eine vernünftige Regelung
durchdringt das Kunstwerk, und die Vernunft
spielt auch bei dessen Betrachtung neben dem un-
mittelbaren sinnlich-anschaulichen Genuß eine
große Rolle. Die Vernunft verlangt die sorgfältige
Ordnung und darüber hinaus deren einleuchtende
inhaltliche Begründung.
Außer in der geregelten Ordnung des Gesamt-
aufbaues offenbart sich die Vernünftigkeit des Fran-
zosen auch in der Art der Darstellung bzw. Nach-
ahmung. Die Verbildlichung wird bestimmt durch
die in den Darstellungsmitteln liegenden Möglich-
keiten. Die Grenzen des Darstellbaren bleiben im-
mer bewußt. Es entsteht - grundsätzlich - in der
Darstellung nie der Konflikt zwischen dem Er-
strebten und dem Erreichbaren (wie in Deutsch-
land). Von vornherein wird die Vorstellung auf
eine Form gebracht, die der Darstellung zugäng-
lich ist (oder die Vorstellung ist an und für sich
schon leichter darstellbar). Man berücksichtigt die
Verschiedenheit der beiden Kategorien und ver-
meidet so die Reibung von Geist und Materie. Der
Franzose ist sich klar, daß es nie im Bereiche des
Möglichen liegen kann, die Fülle der sich darbie-
tenden Natur, der lebendige Fluß aller unmittel-
baren Lebensäußerungen, die ganze Verwobenheit
einer auch noch so geordneten Umgebung festzu-
halten. Deshalb wählt er sorgsam aus; er sucht
einerseits eine Beschränkung auf das Wesentliche,
anderseits eine Festlegung dieses Wesentlichen.
Das Zufällige und das Augenblickliche treten vor
dem Notwendigen und dem Bleibenden zurück.
Diese Abkürzung oder Rückbildung steigert die

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