IV. ABSCHNITT
DER GEHALT DER DARSTELLUNG
Die Untersuchung begann mit der Darlegung des
französischen Form- und Farbgefühls und der Ab-
leitung der Bildaufbaugesetze aus den inhaltlosen
formalen Kategorien der Form und der Farbe; das
in Abschnitt II gefundene Grundgesetz der ver-
hältnismäßigen Einheit wurde in weiterem Verlauf
der Betrachtung an der Gruppierung des Inhalts,
im ruhenden Bewegungsausgleich der«Handlung»
und in der folgerichtig-bezüglichen Darstellung
des Raumes wiederentdeckt, daneben auch die an-
schaulich-vernünftige Art der Verbildlichung fest-
gestellt.
Es ist nun notwendig, noch Ergänzungen hin-
sichtlich der allgemeinen Anschauungen zu ma-
chen, die als Gehalt einer Darstellung innewohnen.
Wie die formale Gestaltung trotz der strukturellen
Veränderung der Einzelformen bei jedem Volk
dauernden Gesetzen untersteht, so läßt sich auch
in der inhaltlichen Darstellung durch die weltan-
schaulichen Veränderungen der Unterlagen ein
volksbedingter gemeinschaftlicher Zug mit Leich-
tigkeit nachweisen. Die Wandlungen, die die bil-
dende Kunst im späten Mittelalter erfährt, sind
allerdings von solcher Tiefe, daß das Bindende
zwischen den Völkern zuerst ersichtlich wird.
Doch ist in dem ganzen Veränderungsprozeß ge-
rade das unbewußte Hinstreben auf eine stärkere
Ausprägung völkischer Besonderheiten ein wesent-
licher Bestandteil. Die völlige Erneuerung des gei-
stigen Weltbildes geht aus der Auflösung der ge-
schlossenen religiösen Weltordnung hervor, die
bedingt ist durch die grundlegende Veränderung
des Wirtschaftssystems, die sich seit dem 12. Jahr-
hundert langsam anbahnte. Ausgangspunkt und
Nutznießer der Neuordnung sind die Händler in
den Städten: die Bürger. Mit zunehmendem Wohl-
stand steigt ihre Selbstbewußtheit. Sie bilden sich
diejenige Staatsform, die ihren Erwerb am einträg-
lichsten gestaltet; sie lösen sich von der geistigen
Führung durch die Kirche, die mit ihrem Hinweis
auf ein besseres Jenseits als ein Hindernis für ein
besseres Diesseits empfunden wird. An Stelle eines
sich bescheidenden Glaubens tritt ein drängendes
Erkennenwollen, an Stelle religiös-patriarchalischer
Begriffe ein bewußteres Wirklichkeitsempfinden.
Der Mensch wird materialistischer, egoistischer,
aber auch persönlicher. Noch vor den Eigenheiten
des Einzelnen treten die Eigenheiten größerer Ge-
meinschaften in zunehmendem Maße hervor. Auf
allen Lebensgebieten werden die alten Formen im
eigenen Sinn volksmäßig differenziert. Die neue,
tonangebende Klasse des Bürgertums ruht stärker
als Adel und Geistlichkeit im eigenen Volkstum.
Seit dem 13. Jahrhundert, stärker im 14. Jahr-
hundert, lockern sich die strengen Systeme des be-
grifflichen Bildkodexes in der Kunst. Die Welt der
wirklichen Erscheinungen wird einer beobachten-
den Einstellung das neue Vorbild künstlerischer
Betätigung. Wenn man sich auch zu Anfang sicher-
lich keinerlei Rechenschaft über die Tragweite des
Begonnenen geben konnte, so lagen doch alle Teil-
lösungen des Problems unbewußt auf dem Wege
zu dessen bestmöglicher Verwirklichung, und zwar
bei j edem Volke in eigenem Sinn (Abb.23-28)(i78).
Jedem Volke schwebte die Ausgestaltung seines
eigenen Innern und seiner eigenen Umgebung
im Bilde vor. In den vorangegangenen Kapiteln
wurde öfters darauf hingewiesen, wie für den
ordnenden Rückblick schon die ersten Vorstöße
in der neuen Richtung auf der Linie liegen, die
die Vollendung beibehält.
Wenn man die neue Kunstrichtung als ein Be-
streben, die Wirklichkeit nachzunahmen, bezeich-
net, so muß dieser Ausdruck nach zwei Seiten hin
bedingt werden. Erstens ist eine Nachahmung nie
absolut, da ein Vorbild nie genau in seiner tatsäch-
lichen Beschaffenheit erfaßt werden kann. Zwei-
tens ist auch die Wirklichkeit nur ein Begriff, der
von der Vorstellung des Individuums abhängig ist.
Um das gegenseitige Verhältnis der beiden Größen
festzustellen, muß man sich vorerst über jede ein-
zelne Aufschluß zu verschaffen suchen.
(178) Die zwei Gruppen der fast ein Jahrhundert ausein-
anderliegenden Bildnisse zeigen deutlich die gleichbleiben-
den Merkmale. (Vgl. S. 66, 69, 70.)
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DER GEHALT DER DARSTELLUNG
Die Untersuchung begann mit der Darlegung des
französischen Form- und Farbgefühls und der Ab-
leitung der Bildaufbaugesetze aus den inhaltlosen
formalen Kategorien der Form und der Farbe; das
in Abschnitt II gefundene Grundgesetz der ver-
hältnismäßigen Einheit wurde in weiterem Verlauf
der Betrachtung an der Gruppierung des Inhalts,
im ruhenden Bewegungsausgleich der«Handlung»
und in der folgerichtig-bezüglichen Darstellung
des Raumes wiederentdeckt, daneben auch die an-
schaulich-vernünftige Art der Verbildlichung fest-
gestellt.
Es ist nun notwendig, noch Ergänzungen hin-
sichtlich der allgemeinen Anschauungen zu ma-
chen, die als Gehalt einer Darstellung innewohnen.
Wie die formale Gestaltung trotz der strukturellen
Veränderung der Einzelformen bei jedem Volk
dauernden Gesetzen untersteht, so läßt sich auch
in der inhaltlichen Darstellung durch die weltan-
schaulichen Veränderungen der Unterlagen ein
volksbedingter gemeinschaftlicher Zug mit Leich-
tigkeit nachweisen. Die Wandlungen, die die bil-
dende Kunst im späten Mittelalter erfährt, sind
allerdings von solcher Tiefe, daß das Bindende
zwischen den Völkern zuerst ersichtlich wird.
Doch ist in dem ganzen Veränderungsprozeß ge-
rade das unbewußte Hinstreben auf eine stärkere
Ausprägung völkischer Besonderheiten ein wesent-
licher Bestandteil. Die völlige Erneuerung des gei-
stigen Weltbildes geht aus der Auflösung der ge-
schlossenen religiösen Weltordnung hervor, die
bedingt ist durch die grundlegende Veränderung
des Wirtschaftssystems, die sich seit dem 12. Jahr-
hundert langsam anbahnte. Ausgangspunkt und
Nutznießer der Neuordnung sind die Händler in
den Städten: die Bürger. Mit zunehmendem Wohl-
stand steigt ihre Selbstbewußtheit. Sie bilden sich
diejenige Staatsform, die ihren Erwerb am einträg-
lichsten gestaltet; sie lösen sich von der geistigen
Führung durch die Kirche, die mit ihrem Hinweis
auf ein besseres Jenseits als ein Hindernis für ein
besseres Diesseits empfunden wird. An Stelle eines
sich bescheidenden Glaubens tritt ein drängendes
Erkennenwollen, an Stelle religiös-patriarchalischer
Begriffe ein bewußteres Wirklichkeitsempfinden.
Der Mensch wird materialistischer, egoistischer,
aber auch persönlicher. Noch vor den Eigenheiten
des Einzelnen treten die Eigenheiten größerer Ge-
meinschaften in zunehmendem Maße hervor. Auf
allen Lebensgebieten werden die alten Formen im
eigenen Sinn volksmäßig differenziert. Die neue,
tonangebende Klasse des Bürgertums ruht stärker
als Adel und Geistlichkeit im eigenen Volkstum.
Seit dem 13. Jahrhundert, stärker im 14. Jahr-
hundert, lockern sich die strengen Systeme des be-
grifflichen Bildkodexes in der Kunst. Die Welt der
wirklichen Erscheinungen wird einer beobachten-
den Einstellung das neue Vorbild künstlerischer
Betätigung. Wenn man sich auch zu Anfang sicher-
lich keinerlei Rechenschaft über die Tragweite des
Begonnenen geben konnte, so lagen doch alle Teil-
lösungen des Problems unbewußt auf dem Wege
zu dessen bestmöglicher Verwirklichung, und zwar
bei j edem Volke in eigenem Sinn (Abb.23-28)(i78).
Jedem Volke schwebte die Ausgestaltung seines
eigenen Innern und seiner eigenen Umgebung
im Bilde vor. In den vorangegangenen Kapiteln
wurde öfters darauf hingewiesen, wie für den
ordnenden Rückblick schon die ersten Vorstöße
in der neuen Richtung auf der Linie liegen, die
die Vollendung beibehält.
Wenn man die neue Kunstrichtung als ein Be-
streben, die Wirklichkeit nachzunahmen, bezeich-
net, so muß dieser Ausdruck nach zwei Seiten hin
bedingt werden. Erstens ist eine Nachahmung nie
absolut, da ein Vorbild nie genau in seiner tatsäch-
lichen Beschaffenheit erfaßt werden kann. Zwei-
tens ist auch die Wirklichkeit nur ein Begriff, der
von der Vorstellung des Individuums abhängig ist.
Um das gegenseitige Verhältnis der beiden Größen
festzustellen, muß man sich vorerst über jede ein-
zelne Aufschluß zu verschaffen suchen.
(178) Die zwei Gruppen der fast ein Jahrhundert ausein-
anderliegenden Bildnisse zeigen deutlich die gleichbleiben-
den Merkmale. (Vgl. S. 66, 69, 70.)
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