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VI. ABSCHNITT

DER BEGRIFF DER KUNST
DIE KÜNSTLERISCHE SELBSTVERWIRKLICHUNG

Schon zur Zeit des späten Mittelalters bietet die
französische Kunst das einheitlichste Bild im Rah-
men eines europäischen Querschnitts. Wo andern-
orts die Vielfalt auseinanderstrebender Erzeug-
nisse der Wissenschaft schwierige Aufgaben stellt,
ist es hier die gleichbleibende einheitliche Ge-
schlossenheit, die die rückblickende geschichtliche
Schau nur mit Sorgfalt ordnend lösen kann. Die
Regelmäßigkeit und Abgeschlossenheit, die sich
schon bei der Betrachtung des leeren Formgerüstes
als unmittelbares Abbild des Temperaments der
zeichnenden Hand offenbarte, diese Abgeschlossen-
heit, die den Aufbau jedes einzelnen Bildes be-
stimmt und die als Kennwort der Laufbahn fast
jedes Künstlers vorangestellt werden könnte: sie
spiegelt sich wieder im Gesamtbild der Kunst des
Landes. Als mächtiges, unzerreißbares Band schließt
das Französischsein und später das Bewußtsein des
Franzosentums das Einzelne zusammen. Durch
den Menschen als das Erzeugnis der Natur prägt
sich die Einheit des Landes auch allen mensch-
lichen Erzeugnissen auf. Diese Zusammenhänge
sind natürlich ursprünglich unbewußt und wirken
sich auch nach ihrer Erkenntnis beim Zustande-
kommen einer Schöpfung nicht gewollt, sondern
unmittelbar aus. Denn vor der Erkenntnis ruht
schon in jedem einzelnen Individuum die Summe
jener Eigenschaften, die das umgebende Land in
sich selber trägt. Alle menschlichen Vorstellungen
leiten sich von diesem ab.
Das Gleichmäßig-Dauerhafte, das Selbstver-
ständliche, das den Franzosen kennzeichnet, wird
der Ausgangspunkt der künstlerischen Gestaltung.
Es verbindet sich mit demjenigem, was er als an-
genehm, natürlich und schön empfindet, mit dem
vernünftig geregelten Maß, zur Vorstellung eines
Notwendigen. Es findet kein Ringen um die Er-
reichung eines Zieles statt, mit dem man sich zur
Möglichkeit einer auf Anstrengung beruhenden
Verbesserung des Vorhandenen bekennen würde
(wie in Italien); das Ziel schwebt als ein eindeutiges
und immer vorhandenes vor Augen: das zu Ge-
staltende muß eine Verkörperung des Schönen sein.

Schönheit ist dem Franzosen eine Verschmelzung
sinnlich empfundener Regelmäßigkeit und ver-
nünftiger Begründung und Klärung. Sie kann sich
körperlich-formal und geistig-inhaltlich äußern.
Primär, d. h. in ihrer reinen Form, besteht sie als
Gedanke, als ein Ideal, dem alle darstellerischen
Lösungen nur nahekommen, ohne es je ganz er-
reichen zu können. Sie ist ein präexistenter Begriff,
nicht transzendent, sondern eine geistige Realität.
In jeder künstlerischen Schöpfung ist sie von vorn-
herein enthalten, wird als ein Gleichbleibendes
immer wieder zu gestalten versucht. Von dieser
festen Vorstellung leiten sich die schönheitlichen
Ordnungen ab, als deduktiv gefundene Werte von
absolutem Gehalt. Das Mittelalter ergründete die
schöpferischen Zusammenhänge der künstleri-
schen Gestaltung noch nicht, setzte die volksbe-
dingten Anschauungen unbewußt in die Form um.
Es blieb dem Zeitalter der geistigen Erkenntnis
vorbehalten, das bewußte künstlerische Bekenntnis
abzulegen, das längst Bestehende geistig zu moti-
vieren. Poussin, der große Maler-Philosoph, ist der
echte Repräsentant französischer Anschauungen,
wenn er sagt: La peinture n’est que l’idee des cho-
ses incorporelles; car quelque objet que represen-
tent les corps il representent seulement l’ordre et
le mode de leur espece, tandis que la peinture tend
toujours plus ä l’idee du beau qu’ä toutes les
autres (237). Es ist dies wohl die erste grundlegende
und zugleich die schärfste Definition des französi-
schen Kunst- und Schönheitsbegriffs, der eine all-
gemeine Gültigkeit auf die vorausgehenden und
nachfolgenden Epochen zukommt. Der Glaube an
die Schönheit erhält eine vernünftige Begründung
und in der Darstellung seine materielle Fassung,
seine anschaulich festgelegte Verkörperung, die
bei aller sinnlichen Eigenwertigkeit immer noch
die Bedeutung eines Schönheitssymbols beibehält.
Der vernunftbestimmte Wirklichkeitssinn gestaltet
das Kunstwerk aus einem vorbestehenden idealen
Schönheitsbegriff heraus zu einer realen geordneten
(237) Fontaine: Lesdoctrines d’arten France. Paris 1909.
Aus einem Brief Poussins.

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