Universitätsbibliothek HeidelbergUniversitätsbibliothek Heidelberg
Overview
Facsimile
0.5
1 cm
facsimile
Scroll
OCR fulltext
III. ABSCHNITT • i.Teil

DAS VERHÄLTNIS VON INHALT UND FORM

In den beiden vorangegangenen Abschnitten
wurde versucht, innerhalb der vom Inhalt ab-
gelösten, rein formalen Kategorien der Form
und der Farbe durch folgerichtiges Fortschreiten
vom Kleinen und Einzelnen zum Großen und
Gesamten den Sinn für das besondere franzö-
sische Formgefühl zu entwickeln. Als hervor-
tretende Eigenschaften konnten festgestellt wer-
den die Klarheit in Gestaltung, Trennung und
Verteilung der Formen, die Vorliebe für gegen-
seitige Entsprechungen und gemeinsame Maße
und Verhältnisse, die sorgfältige Innehaltung
eines allgemeinen Gleichgewichtes, das sich in
der formalen Einheit erfüllt, alles Kennzeichen,
die sich auf allen Ebenen der verschiedenen Form-
und Farbkategorien immer wieder fanden. Sie
sind die Form gewordenen Ausstrahlungen des
französischen Wesens, Sinnbilder und Ergeb-
nisse zugleich der es bestimmenden Klarheit,
Eindeutigkeit und Ausgewogenheit. Aus dieser
Linien- und Farbenschau ging wohl eindeutig
hervor, daß der Franzose das Faßliche und Be-
nennbare liebt; seine ganze Vernünftigkeit zeich-
net sich hinter dem formalen Gerüst ab. Den
Formen und Farben haften Selbstwerte an; als
solche werden sie ausgebaut und abgewandelt.
Nun ist aber jede Form auf dem Wege der
Verbildlichung eines Inhalts Mittel zur Dar-
stellung, und es stellt sich jetzt die Frage, in was
für ein Verhältnis die eben betrachteten Formen
zu den darzustellenden Inhalten treten, d. h. auf
welche besondere Weise die Inhalte in diesen
Formen sichtbar gemacht werden, und wie sich
das Formgefühl im großen auf die Gestaltung
eines Bildganzen auswirkt.
Damit dies festgestellt werden kann, muß erst
eine wichtige Vorfrage nach dem Wesen des In-
halts in der französischen Kunst gestellt wer-
den. Denn ein Inhalt, welcher gegenständlicher
Art er auch sein möge, ist natürlich nie allein
etwas schlechthin Vorhandenes und Unveränder-
liches, sondern empfängt seine letzte Wertbestim-
mung in jeder Beziehung immer erst vom Subjekt,

das ihn erfaßt. Dabei muß noch in Rechnung
gezogen werden, daß gleiche Dinge auch nach
der objektiven Seite hin nicht überall dieselben
sind: in Form und Farbe prägen sich jedem
Gegenstand in gewissem Umfang die Gesetze
der Umgebung auf. Der Ausgangspunkt für die
künstlerische Darstellung bleibt aber dabei die
Vorstellung des gestaltenden Subjekts, in unserm
Falle also des französischen Kollektivsubjekts,
die ihrerseits objektiv in mancher Hinsicht von
ähnlichen Faktoren bedingt ist wie der darzu-
stellende Gegenstand selbst. Für den Franzosen
verbinden sich mit jedem Ding festgelegte Werte
und Formen; sein Sinn für das Wirkliche und
Wesentliche klärt jede Vorstellung nach der ver-
nünftig faßlichen Seite hin. In einer begrifflichen
Weise wird vom Fließenden abgesehen; es findet
zugunsten einer klaren gedanklichen Einheit eine
Beschränkung und Vereinfachung statt, die dazu
führt, daß eine Vorstellung über Individuum
und Zeit hinaus verhältnismäßig wenig veränder-
lich ist. Die in der Anschauung bestehende be-
griffliche Einheit teilt sich auch der künstle-
rischen Darstellung mit, der damit eine gewisse
visuelle Begrifflichkeit anhaftet, die schon im
«begrifflichen» Bildstil des Mittelalters im Ver-
gleich mit fremden Kunstübungen auffällt, aber
seit dem engern Anschluß an die erfahrungs-
mäßige Wirklichkeit der Erscheinungen stärker
zutage tritt. An erster Stelle wird die große
Linie, das allgemein Kennzeichnende, festge-
halten, es kommt auf die wesentlichen Formen
einer Erscheinung an, die damit über das Zu-
fällige und unmittelbar Wandelbare hinaus wei-
tere Gültigkeit und allgemeinen Bestand be-
kommt: handle es sich nun um Unveränder-
liches (Szenerien) oder Veränderliches (Hand-
lungen). Die Gegenstände werden in der Beschaffen-
heit ruhenden Bestehens festgehalten.
Um nun alle Werte einer ruhenden Erschei-
nung möglichst vollständig und allseitig zu er-
fassen, sucht der Franzose in der Darstellung
für jeden inhaltlichen Vorwurf die ihm am besten

36
 
Annotationen