III. ABSCHNITT • 3. Teil
DER BILDRAUM
Jedes Geschehen im Bild braucht ergänzend einen
Raum, in dem es sich entwickeln kann. Die große
und tiefgehende Wandlung von einer begrifflich-
unbedingten zu einer erscheinungsmäßig-beob-
achtenden Darstellungsweise, die, wenn auch
nicht gleichartig und gleichmäßig, so doch grund-
sätzlich das ganze Gebiet der romanisch-germani-
schen Kulturen erfaßt, läßt, gleichzeitig mit der
wirklichkeitsentsprechenderen Gestaltung undVer-
bindung der Einzelinhalte, die sich zum Geschehen
formen, die Raumdarstellung zu einer der wichtig-
sten Aufgaben werden.
Summarische Raumbezeichnungen waren auch
in der frühmittelalterlichen Darstellung nie ver-
schwunden. Zu Ende des 13. Jahrhunderts häufen
sie sich und nehmen einen breiteren Raum im Ge-
samtinhalt ein. Allmählich treten an Stelle der blo-
ßen Raumsinnbilder einzelne vertiefende Linien,
die in zunehmendem Maß den flächigen Eindruck
aufheben. Figuren und Gegenstände lösen sich aus
der Fläche heraus, treten von ihr zurück. Die Ent-
wicklung steigert sich zu immer größerer Schnel-
ligkeit. Sie ist wie ein Feuer, das erst klein brennt
und sich schließlich mit rasender Eile ausbreitet,
bis alles Erfaßbare verzehrt ist. Langsam nur faßt
die Vorstellung räumlicher Gestaltung Fuß, und
langsam nur festigt sie sich in den Anfängen;
doch von einem gewissen Zeitpunkt an - es ist
zu Beginn des 15. Jahrhunderts - werden die
Folgerungen der Unternehmung in kurzer Frist
erkannt und im Laufe weniger Jahrzehnte durch-
geführt.
Das Problem der Raumdarstellung ergibt sich
aus der Absicht der Wirklichkeitseinbeziehung in
die bildlicheDarstellung. Es ist dem ganzenAbend-
land gemein. Jedoch sind das Wesen des Bildrau-
mes im allgemeinen, seine Bedeutung für die Dar-
stellung im besonderen, der Verlauf seiner Ent-
wicklung und die Art seiner Gewinnung in jedem
Kunst- und Kulturkreis wieder anders. Die Ge-
samtheit der einem Volk eigentümlichen Anschau-
ungen lenken die Entwicklung der Raumdarstel-
lung wie auch diejenige der Gestaltung des Ge-
schehens in vorbestimmte Bahnen. Dabei werden
sich natürlich Bildraum und Bildhandlung in
ihrem besonderen Wesen entsprechen.
Die Gesetze der französischen Raumgestaltung
leiten sich aus den Bedürfnissen der begrifflichen
Klärung in anschaulichen Formen ab. Die Tiefe
wird von Anfang an anschaulich gestaltet, d. h. ihrer
Art und Ausdehnung nach sichtbar und eindeutig
festgelegt. Alle tiefenführenden, raumkonstruktiven
Linien, seien sie nun baulicher oder landschaft-
licher Natur, werden möglichst klar und offenbar dar-
gelegt, zum mindesten ihre Ansatzpunkte müssen
immer sichtbar sein (Abb. 10). Die Tiefenführung
wird dadurch einfach und unmittelbar; sie kann
in einem Zuge abgelesen werden. Die Entwick-
lung der Raumdarstellung ist eine außerordent-
lich regelmäßige und folgerichtige. Die Dar-
stellung des Raumes als solche wird nie zum
Problem, wie in Italien. Mit einer mehr auf be-
grifflichem Wege als am darzustellenden Inhalt
gewonnenen Klarheit werden die räumlichen Ver-
hältnisse angegeben. Schritt für Schritt erweitert
sich das Darstellungsfeld nach der Tiefe zu. Die
schmale Bodenzone, die sich aus der Bodenlinie
entwickelt, verbreitert sich gleichmäßig und bietet
immer mehr wirklichen Stehraum. Besonders an-
schaulich markieren in Innenräumen die Fliesen-
böden (die schon in der flächenhaften Darstellung
in begrifflicher Weise verwendet worden waren)
das Vordringen in die Tiefe. Eine Fliesenreihe
nach der andern wird hinten zugefügt (Abb. 5) und
gibt genaueRechenschaft über die räumliche Tiefe.
Die gleiche Rolle fällt auch der Decke zu, die da-
mit zur zweiten Kontrollinstanz für die Tiefe von
Innenräumen wird. Die nordfranzösische Malerei
kennt hauptsächlich die einfachen Längs- und
Querbalken (122), seltener die Tonnengewölbe mit
(122) Kleines Stundenbuch des Herzogs von Berry:
Geburt Johannes des Täufers. Paris, Nat. Bibi., Ms. lat.
18014 f°l. 207. - Großes Stundenbuch des Herzogs von
Berry: Verkündigung Mariä. Paris, Nat. Bibi., Ms. lat. 919
fol. 34. Abbildung bei Leroquais, a. a. O., T. XVIII und
XXIX.
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DER BILDRAUM
Jedes Geschehen im Bild braucht ergänzend einen
Raum, in dem es sich entwickeln kann. Die große
und tiefgehende Wandlung von einer begrifflich-
unbedingten zu einer erscheinungsmäßig-beob-
achtenden Darstellungsweise, die, wenn auch
nicht gleichartig und gleichmäßig, so doch grund-
sätzlich das ganze Gebiet der romanisch-germani-
schen Kulturen erfaßt, läßt, gleichzeitig mit der
wirklichkeitsentsprechenderen Gestaltung undVer-
bindung der Einzelinhalte, die sich zum Geschehen
formen, die Raumdarstellung zu einer der wichtig-
sten Aufgaben werden.
Summarische Raumbezeichnungen waren auch
in der frühmittelalterlichen Darstellung nie ver-
schwunden. Zu Ende des 13. Jahrhunderts häufen
sie sich und nehmen einen breiteren Raum im Ge-
samtinhalt ein. Allmählich treten an Stelle der blo-
ßen Raumsinnbilder einzelne vertiefende Linien,
die in zunehmendem Maß den flächigen Eindruck
aufheben. Figuren und Gegenstände lösen sich aus
der Fläche heraus, treten von ihr zurück. Die Ent-
wicklung steigert sich zu immer größerer Schnel-
ligkeit. Sie ist wie ein Feuer, das erst klein brennt
und sich schließlich mit rasender Eile ausbreitet,
bis alles Erfaßbare verzehrt ist. Langsam nur faßt
die Vorstellung räumlicher Gestaltung Fuß, und
langsam nur festigt sie sich in den Anfängen;
doch von einem gewissen Zeitpunkt an - es ist
zu Beginn des 15. Jahrhunderts - werden die
Folgerungen der Unternehmung in kurzer Frist
erkannt und im Laufe weniger Jahrzehnte durch-
geführt.
Das Problem der Raumdarstellung ergibt sich
aus der Absicht der Wirklichkeitseinbeziehung in
die bildlicheDarstellung. Es ist dem ganzenAbend-
land gemein. Jedoch sind das Wesen des Bildrau-
mes im allgemeinen, seine Bedeutung für die Dar-
stellung im besonderen, der Verlauf seiner Ent-
wicklung und die Art seiner Gewinnung in jedem
Kunst- und Kulturkreis wieder anders. Die Ge-
samtheit der einem Volk eigentümlichen Anschau-
ungen lenken die Entwicklung der Raumdarstel-
lung wie auch diejenige der Gestaltung des Ge-
schehens in vorbestimmte Bahnen. Dabei werden
sich natürlich Bildraum und Bildhandlung in
ihrem besonderen Wesen entsprechen.
Die Gesetze der französischen Raumgestaltung
leiten sich aus den Bedürfnissen der begrifflichen
Klärung in anschaulichen Formen ab. Die Tiefe
wird von Anfang an anschaulich gestaltet, d. h. ihrer
Art und Ausdehnung nach sichtbar und eindeutig
festgelegt. Alle tiefenführenden, raumkonstruktiven
Linien, seien sie nun baulicher oder landschaft-
licher Natur, werden möglichst klar und offenbar dar-
gelegt, zum mindesten ihre Ansatzpunkte müssen
immer sichtbar sein (Abb. 10). Die Tiefenführung
wird dadurch einfach und unmittelbar; sie kann
in einem Zuge abgelesen werden. Die Entwick-
lung der Raumdarstellung ist eine außerordent-
lich regelmäßige und folgerichtige. Die Dar-
stellung des Raumes als solche wird nie zum
Problem, wie in Italien. Mit einer mehr auf be-
grifflichem Wege als am darzustellenden Inhalt
gewonnenen Klarheit werden die räumlichen Ver-
hältnisse angegeben. Schritt für Schritt erweitert
sich das Darstellungsfeld nach der Tiefe zu. Die
schmale Bodenzone, die sich aus der Bodenlinie
entwickelt, verbreitert sich gleichmäßig und bietet
immer mehr wirklichen Stehraum. Besonders an-
schaulich markieren in Innenräumen die Fliesen-
böden (die schon in der flächenhaften Darstellung
in begrifflicher Weise verwendet worden waren)
das Vordringen in die Tiefe. Eine Fliesenreihe
nach der andern wird hinten zugefügt (Abb. 5) und
gibt genaueRechenschaft über die räumliche Tiefe.
Die gleiche Rolle fällt auch der Decke zu, die da-
mit zur zweiten Kontrollinstanz für die Tiefe von
Innenräumen wird. Die nordfranzösische Malerei
kennt hauptsächlich die einfachen Längs- und
Querbalken (122), seltener die Tonnengewölbe mit
(122) Kleines Stundenbuch des Herzogs von Berry:
Geburt Johannes des Täufers. Paris, Nat. Bibi., Ms. lat.
18014 f°l. 207. - Großes Stundenbuch des Herzogs von
Berry: Verkündigung Mariä. Paris, Nat. Bibi., Ms. lat. 919
fol. 34. Abbildung bei Leroquais, a. a. O., T. XVIII und
XXIX.
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