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III. ABSCHNITT • 2. Teil

BEWEGUNG UND BILDGESCHEHEN

Die inhaltliche Voraussetzung für die Einheitlich-
keit des Bildaufbaues ist die Einheit des Inhalts.
Der Bildinhalt ist, zum mindesten im Mittelalter,
fast immer mit einer Handlung gleichzusetzen.
Jede Handlung besteht aus einzelnen Bewegungen.
Eine Bewegung wird nun in der französischen
Kunst immer als abgeschlossene Phase dargestellt.
Ebenso wie die übrigen Inhalte in ihrer «ruhenden
Beschaffenheit» aufgenommen, dargestellt und er-
faßt werden, so wird auch an einer Bewegung der
wesentliche Augenblick ihres zeitlichen Ablaufs
festgehalten. Dadurch bedingt sie den Körper,
dem sie anhaftet, nicht in seiner allgemeingültigen
Beschaffenheit, sondern sie hängt ihm vielmehr als
zusätzliche, zeitbedingte Eigenschaft an. Das fran-
zösische Wort «pose» umschreibt genau die Vor-
stellung, die an die Bewegung - im Gebiet der bild-
lichen Darstellung - geknüpft wird: sie ist eine ver-
nünftig bestimmte Stellung, eine Gesetztheit, ein
festgelegter Begriff. Auf diese Weise kann sie - wie
ein bewegungsloser Inhalt - vollständig in die
klare Form gefaßt und in ihr aufgenommen wer-
den. «Bewegung» und Formeindruck werden iden-
tisch. Die Stärke und Nachhaltigkeit einer Bewe-
gung drückt sich immer voll in den sie tragenden
Formen aus; oder: die Bewegung!menge wird eindrück-
lich in der wirklichen Bewegtheit der Form ausgedrückt.
Da eine Bewegung als «ruhender» Inhalt aufge-
faßt und gestaltet wird, entbehrt sie jeder sugge-
stiven Dynamik. Ihre Auswirkung beschränkt sich
auf sie selbst. Die Intensität einer Bewegung kann
nur dadurch hervorgehoben werden, daß ihr ein
bestimmterWirkungsraum zur Verfügung gestellt
wird. Die Betonung erfolgt auf formalem Wege,
genau wie bei den ruhenden Inhalten. Eine unwill-
kürliche, eindrückliche Erweiterung des Bewe-
gungsausschlages kommt durch die Verbindung
von Bewegungsinhalt und inhaltloser Fläche zu-
stande. Von dieser optischen Berechnung geht
Foucquet aus, wenn er auf der Versuchung des
heiligen Bernhard den Teufel nicht in die Mitte
zwischen die beiden Säulenbündel setzt (Abb. 10),
wie es die natürliche Berücksichtigung der Ver-

hältnisse von Körpermasse zu Raum und Fläche
verlangten. Der Fuß des knienden linken Beines
verschwindet sogar hinter dem Raumträger, um
dem drohenden rechten Arm eine möglichst große
Wirkungsfläche zukommen zu lassen, auf der die
inhaltlich wichtige Bewegung ungestört ausklin-
gen kann. Die Figur des Heiligen, dessen rück-
wendende Drehung ruhig und beherrscht ist, wird
dagegen regelmäßig in ihrem Raum-Flächen-Abteil
ausgebreitet. Die beiden Bewegungen - in denen
sich auch die innere Haltung der beiden Personen
ausdrückt - könnten nicht wirkungsvoller unter-
schieden werden.
Der stark ausgeprägte Sinn des Franzosen für
leichte Schaubarkeit und begriffliche Festlegung
genügt sich jedoch noch nicht an dieser grundsätz-
lichen Ausschaltung des Bewegungsmoments.
Über die allgemeine Ruhelage der Einzelbewegun-
gen hinaus wird ein gegenseitiger Richtung!aus-
gleich aller Bewegungen angestrebt, der den Ein-
druck der Ruhe und Ausgewogenheit auch im
Großen gewährleistet. Auch die Bewegungen wer-
den nach dem Grundsatz der Bezüglichkeit und
Verhältnismäßigkeit gestaltet, der im Laufe der
Untersuchung bereits dreimal begegnete: in der
flächenbezüglichen Verteilung der Formen, in der
Entsprechung der Farben und in der formalen
Gliederung des Inhalts. Die Wahrung eines ruhen-
den Gleichgewichts wird auf den verschiedenen
Ebenen der Form und des Inhalts immer wieder
mit den entsprechenden Mitteln durchgeführt.
Jede Bewegung erhält bezüglich der Bildfläche
und später des Raumes eine ganz bestimmte Rich-
tung. Sie wird nicht einfach hingestellt, sondern sie
richtet sich nach den Bildachsen und den jeweils
einer Darstellungsart wichtigen Kräftelinien (110).
Eine Mehrzahl von Bewegungen, von denen jede
(110) Darunter sind die Hauptteilungslinien der Bildfläche
gemeint, also die Begrenzungen der Wirkungsflächen in der
begrifflichen Darstellung, die Umrisse der Hintergrunds-
kulissen im Übergangsstil und die räumlichen Konstruk-
tionslinien in der dreidimensionalen Gestaltung. (Vgl. den
Abschnitt über den Bildaufbau.)

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