V. ABSCHNITT
DAS BILDERLEBNIS
Eine differenziertere Kenntnis der mittelalterlichen
Kunst und ihrer Darstellungsgesetze bildet sich
erst seit kurzem. Gleichzeitig kämpft man um ein
tieferes Verständnis der jener Zeit zugrundeliegen-
den Vorstellungswelt (231). Die Anstrengungen
sind noch in erster Linie auf die Aufklärung grund-
sätzlicher Fragen gerichtet und versuchen das
Trennende und Unterschiedliche im Verhältnis zur
heutigen Zeit festzulegen. Das Verständnis für die
allgemeinen darstellerischen Besonderheiten der
bildenden Kunst versucht man seit Dvorak durch
Erkenntnisse, die aus der gleichzeitigen Philoso-
phie gezogen werden, zu fördern. Die Aussagen
der bildlichen Darstellung sollen durch Ergrün-
dung der geistigen Voraussetzungen, unter denen
sie entstand, erklärt werden. Dabei wird eine be-
stimmte zeitliche Epoche, die in der Philosophie
durch die scholastischen Systeme und ihre Aus-
läufer gekennzeichnet wird, als eine geistige Ein-
heitangesehen, die das gesamte Abendland umfaßt.
Dies kann zu der Annahme verleiten, daß die
mittelalterliche Kunst in ganz Europa überhaupt
nur aus gemeinsamen Anschauungen hervorge-
gangen und überall nach den gleichen Gesetzen
aufgebaut worden sei. Gewiß offenbaren sich die
geistigen Bindungen der Zeit in vielen Punkten,
doch bestehen auch damals volksmäßige Unter-
schiede, die stärker sind, als man gemeinhin anzu-
nehmen pflegt.
Neben dem Gemeinsamen, das die einzelnen
Kulturepochen zusammen- oder auseinanderhält,
darf auf jeden Fall auch die tiefer liegende Bindung
nicht vergessen werden, die sich durch den Ver-
lauf der Zeit hindurch in den Erzeugnissen eines
Volkes offenbart. Es ist selbstverständlich, daß,
unter allen Umständen, Bindendes sowohl im völ-
kischen Längsschnitt durch die Zeit als auch im
zeitlichen Querschnitt durch die Völker vorhanden
sein wird. In beiden Fällen wird neben das Bin-
dende ein Trennendes treten: das eine Mal die zeit-
(231) Seit Dvofäks Kunstgeschichte als Geistesgeschichte.
(Studien zur abendländischen Kunstentwicklung.) München
1924.
11 Ganz 81
liehe, das andere Mal die volksmäßige Kompo-
nente. Es sind immer beide zu berücksichtigen,
wenn Klarheit darüber herrschen soll, ob eine Er-
scheinung mehr an der ersteren oder mehr an der
letzteren hängt oder inwiefern sie sich zwischen
den beiden aufteilt.
Das Bindende zwischen den Völkern äußert sich
in den allgemeinen Zügen der Weltanschauung.
Diese verändert sich sehr tiefgehend im späteren
Mittelalter. Das Streben nach Besitz, das der wirt-
schaftliche Aufschwung Europas mit sich brachte,
bereitet den Weg zu einer Loslösung des Indivi-
duums aus der hierarchisch aufgebauten, geschlos-
senen Gesellschaftsordnung und der religiös-kom-
plexen Weltauffassung. Demokratie und Wissen-
schaft sind die politischen und geistigen Anzeichen
für die Auflösung der alten Gesellschafts- und
Glaubenseinheit. In der Kunst offenbart sich diese
Entwicklung in der Wandlung von einer überper-
sönlichen, aber doch subjektiven, weilimMenschen
selbst unmittelbar verankerten Begrifflichkeit, zu
einer stärker objektiven, erfahrungsmäßig begrün-
deten Ordnung wirklicher Erscheinungswerte, mit
größerer Freiheit persönlicher Auslegung.
Doch ist weder Art und Darstellung der begriff-
lichen Bildinhalte noch die Zielstrebigkeit der
Wirklichkeitseinbeziehung bei den einzelnen Völ-
kern gleich. Die allgemeinen weltanschaulichen
Strömungen erfahren bei jedem Volk wieder eine
Abwandlung, für deren Eigenart seine besonderen
Eigenschaften und die aus diesen abgeleitete grund-
sätzliche Stellungnahme zur umgebenden Welt
maßgeblich ist (232).
Immerhin ist in der Weltanschauung und ihrer
Auswirkung auf die künstlerische Darstellung das
zeitlich Bindende sehr wesentlich. Europa gibt sich
weitgehend als geistige Einheit zu erkennen. Vor
der grundlegenden Verschiedenheit zwischen mit-
telalterlicher und neuzeitlicher Auffassung treten
die völkischen Unterschiede zurück. Die geistige
Entwicklung der Nationen ordnet sich der allge-
mein-europäischen Vorstellungsveränderung ein.
(232) Vgl. Abschnitt IV.
DAS BILDERLEBNIS
Eine differenziertere Kenntnis der mittelalterlichen
Kunst und ihrer Darstellungsgesetze bildet sich
erst seit kurzem. Gleichzeitig kämpft man um ein
tieferes Verständnis der jener Zeit zugrundeliegen-
den Vorstellungswelt (231). Die Anstrengungen
sind noch in erster Linie auf die Aufklärung grund-
sätzlicher Fragen gerichtet und versuchen das
Trennende und Unterschiedliche im Verhältnis zur
heutigen Zeit festzulegen. Das Verständnis für die
allgemeinen darstellerischen Besonderheiten der
bildenden Kunst versucht man seit Dvorak durch
Erkenntnisse, die aus der gleichzeitigen Philoso-
phie gezogen werden, zu fördern. Die Aussagen
der bildlichen Darstellung sollen durch Ergrün-
dung der geistigen Voraussetzungen, unter denen
sie entstand, erklärt werden. Dabei wird eine be-
stimmte zeitliche Epoche, die in der Philosophie
durch die scholastischen Systeme und ihre Aus-
läufer gekennzeichnet wird, als eine geistige Ein-
heitangesehen, die das gesamte Abendland umfaßt.
Dies kann zu der Annahme verleiten, daß die
mittelalterliche Kunst in ganz Europa überhaupt
nur aus gemeinsamen Anschauungen hervorge-
gangen und überall nach den gleichen Gesetzen
aufgebaut worden sei. Gewiß offenbaren sich die
geistigen Bindungen der Zeit in vielen Punkten,
doch bestehen auch damals volksmäßige Unter-
schiede, die stärker sind, als man gemeinhin anzu-
nehmen pflegt.
Neben dem Gemeinsamen, das die einzelnen
Kulturepochen zusammen- oder auseinanderhält,
darf auf jeden Fall auch die tiefer liegende Bindung
nicht vergessen werden, die sich durch den Ver-
lauf der Zeit hindurch in den Erzeugnissen eines
Volkes offenbart. Es ist selbstverständlich, daß,
unter allen Umständen, Bindendes sowohl im völ-
kischen Längsschnitt durch die Zeit als auch im
zeitlichen Querschnitt durch die Völker vorhanden
sein wird. In beiden Fällen wird neben das Bin-
dende ein Trennendes treten: das eine Mal die zeit-
(231) Seit Dvofäks Kunstgeschichte als Geistesgeschichte.
(Studien zur abendländischen Kunstentwicklung.) München
1924.
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liehe, das andere Mal die volksmäßige Kompo-
nente. Es sind immer beide zu berücksichtigen,
wenn Klarheit darüber herrschen soll, ob eine Er-
scheinung mehr an der ersteren oder mehr an der
letzteren hängt oder inwiefern sie sich zwischen
den beiden aufteilt.
Das Bindende zwischen den Völkern äußert sich
in den allgemeinen Zügen der Weltanschauung.
Diese verändert sich sehr tiefgehend im späteren
Mittelalter. Das Streben nach Besitz, das der wirt-
schaftliche Aufschwung Europas mit sich brachte,
bereitet den Weg zu einer Loslösung des Indivi-
duums aus der hierarchisch aufgebauten, geschlos-
senen Gesellschaftsordnung und der religiös-kom-
plexen Weltauffassung. Demokratie und Wissen-
schaft sind die politischen und geistigen Anzeichen
für die Auflösung der alten Gesellschafts- und
Glaubenseinheit. In der Kunst offenbart sich diese
Entwicklung in der Wandlung von einer überper-
sönlichen, aber doch subjektiven, weilimMenschen
selbst unmittelbar verankerten Begrifflichkeit, zu
einer stärker objektiven, erfahrungsmäßig begrün-
deten Ordnung wirklicher Erscheinungswerte, mit
größerer Freiheit persönlicher Auslegung.
Doch ist weder Art und Darstellung der begriff-
lichen Bildinhalte noch die Zielstrebigkeit der
Wirklichkeitseinbeziehung bei den einzelnen Völ-
kern gleich. Die allgemeinen weltanschaulichen
Strömungen erfahren bei jedem Volk wieder eine
Abwandlung, für deren Eigenart seine besonderen
Eigenschaften und die aus diesen abgeleitete grund-
sätzliche Stellungnahme zur umgebenden Welt
maßgeblich ist (232).
Immerhin ist in der Weltanschauung und ihrer
Auswirkung auf die künstlerische Darstellung das
zeitlich Bindende sehr wesentlich. Europa gibt sich
weitgehend als geistige Einheit zu erkennen. Vor
der grundlegenden Verschiedenheit zwischen mit-
telalterlicher und neuzeitlicher Auffassung treten
die völkischen Unterschiede zurück. Die geistige
Entwicklung der Nationen ordnet sich der allge-
mein-europäischen Vorstellungsveränderung ein.
(232) Vgl. Abschnitt IV.