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Genius: Zeitschrift für werdende und alte Kunst — 1.1919

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Erstes Buch
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Die Bildenden Kuenste
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Sachs, Heinrich: Maria Magdalena: nach dem Tiefenbronner Altar von Lucas Moser und der Legenda Aurea
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https://doi.org/10.11588/diglit.61254#0084
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62

HEINRICH SACHS

drin hängen goldene Früchte: sprühend, voll Kraft,
voll Reife und himmlischer Süße.
A us breitem Grunde wächst der Altar. Da sind
iXgemaletTag und Nacht—die klugen und törich-
ten Jungfrauen. Sie brennen gleich Feuerflammen
hin zu Christus. Sie rufen den Menschen zu:
„Wachet also, denn ihr kennt nicht den Tag,
noch die Stunde. Gießt Öl zur Lampe, so lange
es Tag ist; bereitet eure Herzen, damit ihr bereit
seid, wenn der Geistesbräutigam kommt, euch
hinzuführen zur Hoch-Zeit in Gott.“
Und das Sinnbild wird zur Begebenheit: als
aber Christus durch das Land predigte, kam
Maria Magdalena in das Haus Simons des Aus-
sätzigen. Aber sie wagte als eine Sünderin nicht
unter die Gerechten zu sitzen, darum ging sie
hinter dem Herrn zu, wusch seine Füße mit ihrem
Haar und salbte sie mit köstlicher Salbe. Da dachte
Simon der Pharisäer bei sich: „Wäre dieser ein
Prophet, er ließe sich nicht von der Sünderin an-
rühren.“ Der Herr strafte ihn um die Hoffart seiner
Gerechtigkeit und vergab dem Weib all ihre Sünden.
Ihr wurde vergeben, weil sie viel geliebt hatte,
wem aber weniger vergeben wird, der liebt auch
weniger. Durch übergroße Sehnsucht ward Maria
Magdalena zu einer großen Sünderin. Alle großen
Sünden sind Gott nahe. Sie entstehen aus dem
Suchen nach Befreiung, aus einem Mißverständ-
nis des Fleisches. Die Lust des Fleisches, die
Materie ist vergänglich; sie sinkt in sich zurück
wie die Wogen im Meere, um erneut aufzu-
steigen zu größerer Lust und größerer Betäubung
— um Befreiung zu finden. Doch stets klingt
durch den Schrei der Lust ein Schmerz, ein Un-
befriedigtsein. Durch dies Unbefriedigtsein des
Fleisches erkennt der Mensch den Körper als Bild
des Geistes und damit den reinen Geist. Er er-
kennt in Gott seine Erlösung, Freiheit und Ruhe,
— dort seine ewige Heimat. ([ Durch eine letzte,
größte Sünde kehrt Maria Magdalena zu Gott
zurück. Da sie ihren Körper unwert findet, gibt
sie sich Christus hin in der kostbarsten Salbe. Ihre
Lust, die zum Höchsten gestiegen war, stürzt in
Röte nieder und steigt vergeistigt in Christus,

durch Christus ihren Glauben zum reinen Licht
der Wahrheit und des Schauens empor. Das Bild
atmet Erwachen und Lebendigkeit. Dies ist der
Morgen des Menschen nach der Finsternis der
Sünde.
Doch wenn der Mensch durch innere Be-
trachtung zum Licht gelangt, selbst leuchtend,
Erleuchter wird, sich von der Finsternis scheidet,
von dem außen her bestimmten und bedingten
endlichen Sein, wird die Nacht zum Feind. Die
Nacht und die Gesellen der Nacht, denen das
Licht blendend in die Augen strahlt, wehren
sich, kämpfend gegen die Wahrheit und ihre Ver-
künder. Und so geschah es, daß die Jünger des
Lichts zerstreut wurden. Aber Sankt Maximinus,
auch Maria Magdalena, Lazarus ihr Bruder, Martha
ihre Schwester und der selige Cedonius wurden
zusammen auf ein Schiff und ohne Steuer ins
Meer hinausgestoßen, auf daß sie allesamt unter-
gingen. Aber durch Gottes Fügung kamen sie gen
Massilien. ([Neu steigt vor uns auf das Bild des
Gott-Suchers, des Künstlers. Um der Wahrheit
willen, die er den Menschen bringt, wird er aus-
gestoßen aus seinem Vaterland in Prüfungen auf
ein unbekanntes, gefahrenreiches Meer — in Ein-
samkeit. Lucas Moser malt ein erschütterndes Be-
kenntnis voll Größe und Harmonie:
frfjri ftunft fdjri / uuti ßlag tndj fer /
hin Bewert jetj niemen mer/fa o tat/
Du Meerfahrt der Wahrheit, du Meerfahrt der
Kunst! — Doch der Glaube an Gott und sich
selbst wird dem Menschen helfen: er wird den
Untergang nicht fürchten, stolz trägt er im Herzen
die Hoffnung auf Gott, auf ein Massilien! d Und
aus der Dunkelheit duftet eine Blume hinauf ins
Licht; die Ränder erglühen und strahlen in den
Goldhimmel des Mittags, der Ruhe und Reife.
Selbst die Wogen des Meeres sind ruhig gewor-
den; denn Stürme vermögen nur die Blume zu
heben und zu senken, nicht aber sie zu ent-
wurzeln und vernichten. Gleich Staubfäden sind
die Bischofstäbe der Heiligen; sieghaft stark steht
der Mast des Schiffes als Überwinder; die Fahne
spielt im Gold. Tief in der Blume ist süßer
Honig des Friedens und des stillen Glückes. Wie
 
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