MARIA MAGDALENA
63
Duft steigt aus der Blume eine Ahnung — der Ge-
danke einer neuen, ewigen Welt. Alle Bewegung
ist endlich. Was Kommen und Vergehen war,
wird hier endlos, zeitlos, ewig. Ein Klang noch
aus dem Irdischen, ein Symbol der Sehnsucht ist
ein Baum, der klagend bittend die Äste in das
Gold des Himmels taucht. Ein Schiff wiegt sich
auf den Weilen, die hingeflockt sind übers Meer,
wie die Schäfchenwolken über den blauen Som-
merhimmel. Warm und gewaltig, noch anschwel-
lend — sie wollen Orgelklänge werden — ziehn
die Harmonien einer Laute durch den Himmel
und senken sich aufs Meer als Berge — dunkles
Gold der Erfüllung und des Überflusses.
Dies ist der Abend, der hinter dem Horizont
aufsteigt, das Schweigen bringt und die Ein-
samkeit der Nacht. Die'Ferne entschwindet. Auch
der MENSCH kommt — zu sich, sein Blick ist
nach innen gerichtet. Die Umwelt versinkt. —
Stille. G Lazarus liegt in einem todähnlichen Schlaf,
sein Geist ist in die Tiefe geflohen, im Körper
versunken. Er ist dumpf. — Das Haupt leicht
geneigt, wie eine Blume über dem Abgrund, den
Bruder haltend, beschützend, träumt Martha. Ihr
Antlitz strahlt sanfte Ruhe, wie vom Mond ein
mildes, weißes Licht. Cedonius schläft müde; er
stützt sein Haupt. Doch in dem Mund ist ein
Sehnen. Sein Körper wird erfrischt erwachen
und mit dem Geist sich strebend vereinigen.
Maximinus schläft nicht mehr, er ist Gott träu-
mend, schauend. Er hat die Augen leicht ge-
schlossen vor dem blendenden Lichte Gottes.
Seine Hände wollen Gott fassen. Er ist wie der
Baum im Bilde, voll Reife und Erfüllung im Irdi-
schen, er ist gleich dem Sternen-Himmel. C So
rein wie das Gold im Blauen, wie das Ornament
darunter, zeigt das Bild alle Möglichkeiten irdi-
schen Geschehens im Traum: das Gebundensein
mit der Materie, das Verwobensein mit dem Geist
und das Gelöstsein, die reine Geistigkeit, in
der alle Vorstellungen und Träume verschwinden,
Zeuge des Göttlichen, Woge in Sternen verklärt
— oberes Ornament. ([ Maria Magdalena ist er-
leuchtet vom Licht vollkommener Erkenntnis im
Geiste und in ihrem Leib. Sie hat keine Träume
mehr, sie ist die Erleuchtete, die Erleuchterin. Ihr
Angesicht ist heiter und voll Schönheit, ihr Herz
voll Zuversicht und ihre Rede voll Süßigkeit. Sie
predigte den Heiden mit weislichen Worten Chri-
stum, die Wahrheit und das Licht. Und erschien
dem Fürsten und seinem Weibe in der Stille der
Nacht gar zornig mit feurigem Angesicht, daß es
schien, als brenne das ganze Haus, und sprach:
„Schläfst du, Wüterich, Glied deines Vaters, des
Teufels, mit deiner Frau, der bösen Schlange.
Ruhest du, Feind des Kreuzes Christi, nachdem
du deinen Bauch mit mancherlei Speise gefüllt
hast und lässest die Heiligen Gottes dürsten und
Hungers sterben? Da liegst du in deinem Palast
mit seidenen Tüchern gedeckt und siebest, wie
jene ohne Trost und Herberge sind und kümmerst
dich nicht darum. Doch sollst du der Rache nicht
entrinnen, du Bösewicht, daß du also lange nichts
Gutes hast getan.“ Also sprach sie und ver-
schwand. Da die Frau erwachte, zitterte und er-
seufzte sie und sprach zu ihrem Manne, der auch
um dieselbe Sache seufzte: „Ach, lieber Herr,
hast du den Traum auch gesehen, den ich sah?“
„Ja,“ sprach er, „und bin noch voll Wunder und
Grausen; aber was sollen wir tun?“ Da sprach
die Frau: „Es ist uns besser, daß wir ihr Gebot
erfüllen, denn daß wir den Zorn ihres Gottes
auf uns laden.“ Also nahmen sie die Heiligen
zu Herberg auf und versahen sie mit aller Notdurft.
Maria Magdalena aber begehrte nach himm-
lischer Beschauung; und ging in die rauheste
Wildnis. Da wohnte sie unerkannt dreißig Jahre
an einer Statt, die ihr von Engelshänden war be-
reitet. An der Statt waren nicht Wasserbrunnen
noch Freude an Bäumen und Gras; daraus sollte
erkannt werden, daß unser Herr sie nicht mit
irdischer Nahrung wollte sättigen, sondern allein
mit himmlischer Speise. An jeglichem Tag ward sie
zu den sieben Gebetsstunden von Engeln auf in
die Lüfte geführt und hörte mit leiblichen Ohren
den Gesang der himmlischen Heerscharen. So
ward sie alle Tage mit dieser süßen Kost ge-
speiset und darnach von den Engeln wieder an
ihre Stätte zurückgebracht, also daß sie keiner
irdischen Nahrung bedurfte. — Da nun Maria
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Duft steigt aus der Blume eine Ahnung — der Ge-
danke einer neuen, ewigen Welt. Alle Bewegung
ist endlich. Was Kommen und Vergehen war,
wird hier endlos, zeitlos, ewig. Ein Klang noch
aus dem Irdischen, ein Symbol der Sehnsucht ist
ein Baum, der klagend bittend die Äste in das
Gold des Himmels taucht. Ein Schiff wiegt sich
auf den Weilen, die hingeflockt sind übers Meer,
wie die Schäfchenwolken über den blauen Som-
merhimmel. Warm und gewaltig, noch anschwel-
lend — sie wollen Orgelklänge werden — ziehn
die Harmonien einer Laute durch den Himmel
und senken sich aufs Meer als Berge — dunkles
Gold der Erfüllung und des Überflusses.
Dies ist der Abend, der hinter dem Horizont
aufsteigt, das Schweigen bringt und die Ein-
samkeit der Nacht. Die'Ferne entschwindet. Auch
der MENSCH kommt — zu sich, sein Blick ist
nach innen gerichtet. Die Umwelt versinkt. —
Stille. G Lazarus liegt in einem todähnlichen Schlaf,
sein Geist ist in die Tiefe geflohen, im Körper
versunken. Er ist dumpf. — Das Haupt leicht
geneigt, wie eine Blume über dem Abgrund, den
Bruder haltend, beschützend, träumt Martha. Ihr
Antlitz strahlt sanfte Ruhe, wie vom Mond ein
mildes, weißes Licht. Cedonius schläft müde; er
stützt sein Haupt. Doch in dem Mund ist ein
Sehnen. Sein Körper wird erfrischt erwachen
und mit dem Geist sich strebend vereinigen.
Maximinus schläft nicht mehr, er ist Gott träu-
mend, schauend. Er hat die Augen leicht ge-
schlossen vor dem blendenden Lichte Gottes.
Seine Hände wollen Gott fassen. Er ist wie der
Baum im Bilde, voll Reife und Erfüllung im Irdi-
schen, er ist gleich dem Sternen-Himmel. C So
rein wie das Gold im Blauen, wie das Ornament
darunter, zeigt das Bild alle Möglichkeiten irdi-
schen Geschehens im Traum: das Gebundensein
mit der Materie, das Verwobensein mit dem Geist
und das Gelöstsein, die reine Geistigkeit, in
der alle Vorstellungen und Träume verschwinden,
Zeuge des Göttlichen, Woge in Sternen verklärt
— oberes Ornament. ([ Maria Magdalena ist er-
leuchtet vom Licht vollkommener Erkenntnis im
Geiste und in ihrem Leib. Sie hat keine Träume
mehr, sie ist die Erleuchtete, die Erleuchterin. Ihr
Angesicht ist heiter und voll Schönheit, ihr Herz
voll Zuversicht und ihre Rede voll Süßigkeit. Sie
predigte den Heiden mit weislichen Worten Chri-
stum, die Wahrheit und das Licht. Und erschien
dem Fürsten und seinem Weibe in der Stille der
Nacht gar zornig mit feurigem Angesicht, daß es
schien, als brenne das ganze Haus, und sprach:
„Schläfst du, Wüterich, Glied deines Vaters, des
Teufels, mit deiner Frau, der bösen Schlange.
Ruhest du, Feind des Kreuzes Christi, nachdem
du deinen Bauch mit mancherlei Speise gefüllt
hast und lässest die Heiligen Gottes dürsten und
Hungers sterben? Da liegst du in deinem Palast
mit seidenen Tüchern gedeckt und siebest, wie
jene ohne Trost und Herberge sind und kümmerst
dich nicht darum. Doch sollst du der Rache nicht
entrinnen, du Bösewicht, daß du also lange nichts
Gutes hast getan.“ Also sprach sie und ver-
schwand. Da die Frau erwachte, zitterte und er-
seufzte sie und sprach zu ihrem Manne, der auch
um dieselbe Sache seufzte: „Ach, lieber Herr,
hast du den Traum auch gesehen, den ich sah?“
„Ja,“ sprach er, „und bin noch voll Wunder und
Grausen; aber was sollen wir tun?“ Da sprach
die Frau: „Es ist uns besser, daß wir ihr Gebot
erfüllen, denn daß wir den Zorn ihres Gottes
auf uns laden.“ Also nahmen sie die Heiligen
zu Herberg auf und versahen sie mit aller Notdurft.
Maria Magdalena aber begehrte nach himm-
lischer Beschauung; und ging in die rauheste
Wildnis. Da wohnte sie unerkannt dreißig Jahre
an einer Statt, die ihr von Engelshänden war be-
reitet. An der Statt waren nicht Wasserbrunnen
noch Freude an Bäumen und Gras; daraus sollte
erkannt werden, daß unser Herr sie nicht mit
irdischer Nahrung wollte sättigen, sondern allein
mit himmlischer Speise. An jeglichem Tag ward sie
zu den sieben Gebetsstunden von Engeln auf in
die Lüfte geführt und hörte mit leiblichen Ohren
den Gesang der himmlischen Heerscharen. So
ward sie alle Tage mit dieser süßen Kost ge-
speiset und darnach von den Engeln wieder an
ihre Stätte zurückgebracht, also daß sie keiner
irdischen Nahrung bedurfte. — Da nun Maria