W. WORRINGER / KRITISCHE GEDANKEN ZUR NEUEN KUNST
’y'ber Fragen möchte ich heute zu Ihnen
sprechen, die ich ablese von den Lippen
vieler Nachdenklichen. Soweit ich Ant-
worten gebe, sind sie ganz unverbind-
lich, ganz ohne Anspruch. Fassen Sie meine
Ausführungen auf als das laute Selbstgespräch
eines Suchenden, dem zuzuhören anderen Suchen-
den Gewinn sein kann, sei es Gewinn der Zu-
stimmung, sei es Gewinn der Reibung und des
Widerspruchs. Und wenn Sie mich nach meiner
Legitimation fragen, so lasse ich an diesem Ort
natürlich meinen kunsthistorischen Berechtigungs-
nachweis beiseite. Hier vor Ihnen ist meine Legi-
timation keine andere als die eines wachen, ja,
unter den heutigen Zeitverhältnissen überwachen
und aufs höchste empfindlich gewordenen Kultur-
bewußtseins. Dieses Kulturbewußtsein, wie ist
es heute in das Zentrum all unserer Lebens-
problematik gerückt! All die Einzelredner, die
heute an Vortragspulten stehen, getrennt von-
einander und nicht voneinander wissend, im
Grunde sind sie doch alle in engster unbewußter
Gemeinschaft als Diskussionsredner auf dem
großen Konzil des Geistes, das heute abgehalten
wird.
Wenn wir etwas dem Kriege und der Revo-
lution zu danken haben, so ist es die Tagung
dieses großen unsichtbaren Konzils, auf dessen
ungeschriebener Tagesordnung nicht die Zukunft
des Völkerbundes noch die Zukunft des Sozialis-
mus steht noch sonst ein Unmittelbares, sondern
nur eins, das alles andere umfaßt: die Zukunft
unserer Kultur überhaupt. Nicht in Weimar, nicht
in Bern, nicht in Paris findet dieser große Ge-
richtstag über unsere vergangene Kultur, findet
die konstituierende Versammlung einer Neukultur
statt, sondern nur auf jenem geheimen Konzil
der Geister, auf dem wir alle, soweit wir den
Willen zur Zukunft und zur Erneuerung haben,
mit den lauten oder leisen Selbstgesprächen un-
seres tiefsten Gewissens sitzen.
Ich täusche mich wohl nicht in der Annahme,
daß dieses Konzil heute nirgendwo intensiver als in
Deutschland tagt. Hier ward es nicht nur — wie bei
dem besseren Teil aller Kulturnationen — durch
die Gewissensaufrüttelung des Krieges zusammen-
berufen, nein, hier stand ein mächtigerer Ein-
berufer auf: die Niederlage, der materielle und
der schlimmere moralische Zusammenbruch. Ge-
wiß, Rußland war vor Jahresfrist in ähnlicher Lage
und jene unvergeßlichen lapidaren Funksprüche
„an Alle“, die von dort ausgingen, sie wollten in
der Tat jenen Menschheitskongreß tagen lassen
über den Gefilden des durch die Niederlage
moralisch geweihten Rußlands. Aber, man mag
einen noch so starken Glauben haben an das
Russentum der Seele — und diesen Glauben
kann uns keine Oberflächenverzerrung nehmen —
man mag noch so gewiß sein, daß hinter dem
zeitlichen Russentum eines Lenin und Trotzki das
ewige Russentum eines Tolstoi und Dostojewski
der Stunde der Erlösung wartet, kurz, man mag
noch so sehr der Vision leben, daß hier im Osten
doch letzten Endes der moralische Genesungspunkt
Europas liegt, das alles darf uns nicht über die
Tatsache täuschen, daß für uns und die nächsten
GenerationenDeutschland das Schlachtfeld Europas
sein wird, auf dem der heute allein akute Geister-
und Kulturkampf zwischen Ost und West zum
Austrag kommen wird. Ein Geister- und Kultur-
kampf, in dem wir uns hoffentlich nicht wieder
bloß in einem hoffnungslosen Zweifrontenkrieg zer-
reiben werden. Unsere Jugend wenigstens scheint
schon neue Front zu spüren. Ihr Blick, der suchend
nach Westen ging, lief sich nur zu bald müde im
Kreislauf zu Ende gedachter kultureller Möglich-
keiten. Er wandte sich nach Osten und auf-
leuchtend trank er hier immer neue Fernen, immer
neue nicht ausgeschöpfte Weiten des kulturellen
Gedankens. Indien, die große Heimat aller mo-
ralischen Selbstbesinnung, stand hinter Rußland
auf, bereitete ein Erkennen mit Chinas letzter
’y'ber Fragen möchte ich heute zu Ihnen
sprechen, die ich ablese von den Lippen
vieler Nachdenklichen. Soweit ich Ant-
worten gebe, sind sie ganz unverbind-
lich, ganz ohne Anspruch. Fassen Sie meine
Ausführungen auf als das laute Selbstgespräch
eines Suchenden, dem zuzuhören anderen Suchen-
den Gewinn sein kann, sei es Gewinn der Zu-
stimmung, sei es Gewinn der Reibung und des
Widerspruchs. Und wenn Sie mich nach meiner
Legitimation fragen, so lasse ich an diesem Ort
natürlich meinen kunsthistorischen Berechtigungs-
nachweis beiseite. Hier vor Ihnen ist meine Legi-
timation keine andere als die eines wachen, ja,
unter den heutigen Zeitverhältnissen überwachen
und aufs höchste empfindlich gewordenen Kultur-
bewußtseins. Dieses Kulturbewußtsein, wie ist
es heute in das Zentrum all unserer Lebens-
problematik gerückt! All die Einzelredner, die
heute an Vortragspulten stehen, getrennt von-
einander und nicht voneinander wissend, im
Grunde sind sie doch alle in engster unbewußter
Gemeinschaft als Diskussionsredner auf dem
großen Konzil des Geistes, das heute abgehalten
wird.
Wenn wir etwas dem Kriege und der Revo-
lution zu danken haben, so ist es die Tagung
dieses großen unsichtbaren Konzils, auf dessen
ungeschriebener Tagesordnung nicht die Zukunft
des Völkerbundes noch die Zukunft des Sozialis-
mus steht noch sonst ein Unmittelbares, sondern
nur eins, das alles andere umfaßt: die Zukunft
unserer Kultur überhaupt. Nicht in Weimar, nicht
in Bern, nicht in Paris findet dieser große Ge-
richtstag über unsere vergangene Kultur, findet
die konstituierende Versammlung einer Neukultur
statt, sondern nur auf jenem geheimen Konzil
der Geister, auf dem wir alle, soweit wir den
Willen zur Zukunft und zur Erneuerung haben,
mit den lauten oder leisen Selbstgesprächen un-
seres tiefsten Gewissens sitzen.
Ich täusche mich wohl nicht in der Annahme,
daß dieses Konzil heute nirgendwo intensiver als in
Deutschland tagt. Hier ward es nicht nur — wie bei
dem besseren Teil aller Kulturnationen — durch
die Gewissensaufrüttelung des Krieges zusammen-
berufen, nein, hier stand ein mächtigerer Ein-
berufer auf: die Niederlage, der materielle und
der schlimmere moralische Zusammenbruch. Ge-
wiß, Rußland war vor Jahresfrist in ähnlicher Lage
und jene unvergeßlichen lapidaren Funksprüche
„an Alle“, die von dort ausgingen, sie wollten in
der Tat jenen Menschheitskongreß tagen lassen
über den Gefilden des durch die Niederlage
moralisch geweihten Rußlands. Aber, man mag
einen noch so starken Glauben haben an das
Russentum der Seele — und diesen Glauben
kann uns keine Oberflächenverzerrung nehmen —
man mag noch so gewiß sein, daß hinter dem
zeitlichen Russentum eines Lenin und Trotzki das
ewige Russentum eines Tolstoi und Dostojewski
der Stunde der Erlösung wartet, kurz, man mag
noch so sehr der Vision leben, daß hier im Osten
doch letzten Endes der moralische Genesungspunkt
Europas liegt, das alles darf uns nicht über die
Tatsache täuschen, daß für uns und die nächsten
GenerationenDeutschland das Schlachtfeld Europas
sein wird, auf dem der heute allein akute Geister-
und Kulturkampf zwischen Ost und West zum
Austrag kommen wird. Ein Geister- und Kultur-
kampf, in dem wir uns hoffentlich nicht wieder
bloß in einem hoffnungslosen Zweifrontenkrieg zer-
reiben werden. Unsere Jugend wenigstens scheint
schon neue Front zu spüren. Ihr Blick, der suchend
nach Westen ging, lief sich nur zu bald müde im
Kreislauf zu Ende gedachter kultureller Möglich-
keiten. Er wandte sich nach Osten und auf-
leuchtend trank er hier immer neue Fernen, immer
neue nicht ausgeschöpfte Weiten des kulturellen
Gedankens. Indien, die große Heimat aller mo-
ralischen Selbstbesinnung, stand hinter Rußland
auf, bereitete ein Erkennen mit Chinas letzter