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Genius: Zeitschrift für werdende und alte Kunst — 1.1919

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Zweites Buch
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Dichtung und Menschheit
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Weiss, Ernst: Franta Zlin
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https://doi.org/10.11588/diglit.61254#0348

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ERNST WEISS / FRANTA ZL1N

I
ranta Zlin, ein dreißigjähriger verheirateter
Mann, Goldarbeiter von Beruf, hatte als
Offiziersdiener eines Generals im Herbst
1914 die erste Schlacht bei Rawaruska mit-
gemacht. Es fiel der General. Er hatte die letzten
Reserven seiner Division nachmittags halb drei
auf freiem Felde aus dem Eisenbahnzug aus-
waggoniert. Abends sah er von seinen Truppen
alles verloren, Pferd und Mann versinkend im
Sumpf (selbst Pferde hatten menschlichen Schrei,
vor dem alles erdröhnte), Kolonnen flohen über
den Eisenbahndamm, das einzig Feste im mo-
rastigen, modrigen Gelände. Regen und Fin-
sternis überall, nirgends der Feind zu sehen, nur
seine schweren Granaten immer wieder mitten
hinein in den Sumpf, wo sich die Massen vor-
wärts drängten. Der General hatte abends gegen
halb neun den Diener und seinen Stabschef
holen lassen. Während er noch mit dem Offizier
sprach und sonderbare Blicke nach dem Diener
warf, zog er seinen Revolver, und, mit den
Fingern an den Rillen spielend, mitten im Ge-
spräch schoß er sich aus unmittelbarer Nähe in
den Kopf, so daß Stücke der Ladung — wie es
Franta schien, Steinchen oder heißes Wasser —
auf Franta und den Adjutanten spritzten. Franta
stampfte schreiend davon, lief laufenden Soldaten
nach, sah zurückgewandten Blicks, (er hatte „seinen“
General sehr liebgewonnen), auch den Stabschef
zusammenkrachen und Blinkendes auch dessen
Hand entsinken.
Franta war nicht darauf bedacht, aus dem
noch im Eisenbahnwagen liegenden Tornister
Eßwaren und Decken zu holen, sondern rannte
in einem Trab die ganze Nacht hindurch. Er
schabte an seinem Gewand, wollte schnell die
Gehirnreste beseitigen, es regnete in Strömen,
schwerste Feuchtigkeit beschwerte ihn. Je weiter
er kam, desto schrecklicher die Verwirrung, man
war mitten unter den Russen, von beiden Seiten,
selbst von der Erde herauf, vom Himmel herab,

Feuer regnend dröhnten Geschosse, nirgends ein
bekanntes Gesicht, nirgends Ruhe. Straßen voll-
gestopft mit endlosen Kolonnen, Pferde stießen
vergebens vor gegen Wagenwände, sanken in die
Kniee, zusammengepreßt von den Nachdrängen-
den. Kutscher in Zivil rannten ihnen wütend an
die Kehle, fetzten mit Peitschen ihnen in die
großen Augen, schleiften die müden Tiere in
Straßengräben, alles in höchster Eile, denn Kut-
scher, Offiziere, Soldaten, jeder wollte den Ge-
schoßwolken, den niedrig langsam fliegenden
herabschießenden Fliegern entkommen, aber jeder
war gebannt, jeder durch den nächsten furchtbar
„verkerkert“.
Nach zweitägiger Wanderung fühlte Franta
sich in einem Zustand solcher Erschöpfung, wie
wenn er „sich mit seiner Frau sechsmal geliebt
hätte“. Er lachte, wachend und bewußtlos, dachte
flimmernd wie in hitziger Glut an seine Frau
zurück, legte sich, (nun waren alle Sorgen glück-
lich ausgeblasen), unter einen Wagen, der wie
ein Stein in einer Kolonne stand, bemerkte noch
eben vor dem Einschlafen. ein Reitpferd, stallend
neben ihm, doch dachte er nicht mehr daran,
dem schweren, fast weißen Urinstrahl auszuwei-
chen. — Völlig hin fiel er in Schlaf. Ein furcht-
barer Schmerz erweckte ihn: das Rad des Wagens,
endlich sich weiter bewegend, riß an den Enden
seines Mantels und fing schon an, sein Fleisch
einzurollen j ein mit aller Kraft geführter Riß
machte ihn frei, später erst bemerkte er Blut und
böse Schmerzen bei jedem Schritt. Doch über-
wand er alles, und verließ diese Kolonne nicht
mehr. Am 13. November war er in Krakau.
II
ie Stadt war überfüllt von fürchterlichem
Wirrsal, sollte vor dem immer mehr sich nähern-
den Feind evakuiert werden. Franta hatte Leute
vom Gefechtstrain des 33. Infanterieregiments ge-
troffen und schloß sich ihnen an, die auf eigene Faust
in der Richtung auf Ustulka zogen. Sie kamen
 
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