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Genius: Zeitschrift für werdende und alte Kunst — 1.1919

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Erstes Buch
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Die Bildenden Kuenste
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Gauguin, Paul: Vincent van Goghs Wahnsinn und Ende: (aus dem ungedruckten Manuskript "Avant et après")
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https://doi.org/10.11588/diglit.61254#0068

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PAUL GAUGUIN / VINCENT VAN GOGHS WAHNSINN UND ENDE
(Aus dem ungedruckten Manuskript „Avant et apres“)
Herausgegeben von Erich Ernst Schwabach

eit langem schon habe ich Lust, über van
Gogh zu schreiben, und eines schönen
Tages, bin ich erst richtig im Zuge, werde
ich es gewißlich tun. Im Augenblick will
ich über ihn (besser noch über uns) einiges er-
zählen, was einen in gewissen Kreisen verbreiteten
Irrtum beseitigen soll.
Sicherlich ist es ein Zufall, daß während meines
Lebens mehrere Männer, die mit mir verkehrt
und diskutiert haben, wahnsinnig geworden sind.
Die beiden Brüder van Gogh gehören zu diesen,
und einige Leute haben mir böswillig oder aus
Naivität die Schuld daran gegeben. Sicherlich kann
man mehr oder weniger Einfluß auf seine Freunde
haben, aber von da bis zum Wahnsinnigmachen ist
es ein weiter Weg. Lange nach der Katastrophe
schrieb mir Vincent aus dem Irrenhause, in dem
er in Pflege war. Er teilte mir mit:
„Wie glücklich sind Sie, in Paris zu leben.
Da findet man noch Autoritäten, und gewißlich
sollten Sie einen Spezialisten konsultieren, um sich
von Ihrem Wahnsinn zu heilen. Sind wir nicht
alle wahnsinnig?“ — Der Rat war gut. Darum
befolgte ich ihn nicht. Zweifellos aus Wider-
spruchsgeist.
Die Leser des „Mercure“ konnten aus einem
vor einigen Jahren veröffentlichten Briefe Vin-
cents entnehmen, wie sehr er darauf bestand,
daß ich nach Arles käme, um, wie er beabsich-
tigte, ein Atelier zu gründen, das ich leiten
sollte.
Derzeit arbeitete ich in Pont-Aven in der Bre-
tagne. Und mochten nun angefangene Studien
mich an diesen Ort fesseln, mochte ich in dumpfer
Voraussicht etwa Anormales ahnen, ich weigerte
mich lange. Bis ich eines schönen Tages, be-
siegt durch Vincents aufrichtiges freundschaftliches
Drängen, mich auf den Weg machte.
Ich erreichte Arles spät in der Nacht und
erwartete das Morgengrauen in einem Nachtcafe.

Der Wirt betrachtete mich und rief: „Ach, Sie
sind sein Freund, ich erkenne Sie.“
Ein Selbstbildnis, das ich Vincent gesandt hatte,
erklärte hinlänglich den Ausruf des Wirtes.
Vincent hatte ihm das Bild gezeigt und ihm
erklärt, daß es einen Freund darstelle, der bald
eintreffen würde.
Weder zu früh noch zu spät weckte ich
Vincent. Der Tag wurde meiner Einrichtung
und vielem Geschwätz gewidmet. Folgte ein
Spaziergang, um die Schönheiten Arles’ und der
Arlesierinnen bewundern zu können, für die
ich mich (nebenbei bemerkt) nie habe begeistern
können.
Vom nächsten Tag an arbeiteten wir. Er
fuhr fort, ich fing an. Ich muß gestehen, daß
ich nie diese geistige Leichtigkeit besaß, die die
anderen mühelos auf ihrer Pinselspitze sitzen
haben. Die steigen aus der Eisenbahn, greifen
zur Palette und legen mir nichts dir nichts einen
Sonneneffekt hin. Sobald das Zeug trocken ist,
gehts zum Luxembourg und ist Carolus Duran
signiert.
Das Bild bewundere ich nicht, aber ich be-
wundere den Menschen.
So sicher und ruhig ist er.
So unsicher und unruhig ich.
Ich brauche in jedem Land eine Inkubations-
zeit, um jedesmal das Wesen der Pflanzen, Bäume,
kurz der ganzen Natur kennen zu lernen —
die so verschieden und kapriziös ist, sich nie
erraten lassen, nie hingeben will.
So verstrichen etliche Wochen, bis ich die
herbe Kraft Arles’ und seiner Umgebung völlig
begriff. Trotzdem arbeiteten wir kräftig, haupt-
sächlich Vincent. Zwischen uns beiden — Vul-
kan der eine 5 kochend auch, aber innerlich, der
andere — bereitete sich eine Art Kampf vor.
Gleich anfangs empfand ich überall und in
allem eine Unordnung, die mich entsetzte. Kaum
 
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