MAX BROD/VOM D I E S S E ITS WU N D E R UND DER LIEBE
Der Mensch steht als ein körperliches, also
k durchaus endliches Wesen dem Unend-
lichen gegenüber. Dies ist unabwend-
bares Unglück, unheilbare Unvollkom-
menheit. Immer wieder seine Grenze fühlen, die
Unbeständigkeit des Herzens, den Verfall des
Edelmuts, die Abhängigkeit höchster Funktionen
von den niedrigsten, das Ermatten im Aufschwung,
die Lüge im aufrichtigsten Versuch der Ehrlichkeit,
— dies Orgelpunkt aller menschlichen Melodie.
Von solch „edlem“ Unglück deutlich abgehoben
erscheint eine ganze Dämonenhorde dunkler
Scheußlichkeiten (politischer, sozialer u. s. £), die
sich dem Menschen scheinbar ebenso unentrinn-
bar an die Fersen heften, die aber dennoch, wie
immer wieder das Beispiel einzelner und im
Großen geschichtliche Entwicklung zeigt, ab-
gestoßen und geradezu in die Luft zerblasen
werden. Es gibt also (und in diesem grauen-
haften Dasein ist dies eine Erkenntnis, die auf-
recht erhalten zu werden verdient) neben dem
„edlen“ Unglück, neben der unvermeidlichen
„Konfrontation mit dem Unendlichen“ auch ein
„unedles“ Unglück, das in die Macht des Men-
schen, in seinen Willen gestellt ist, dem er ab-
helfen kann, daher (aus dem Können ergibt sich
sofort Pflicht) abhelfen muß. — Unabsehbarer
Niedergang des menschlichen Daseins ist dadurch
verursacht worden, daß diese beiden Arten
menschlichen Unglücks zusammengeworfen und
dem unseligen Adam als ein einziges Riesen-
bündel auf den Rücken geschnallt wurden. Der
christliche Begriff der „Erbsünde“ hat Verwüs-
tungen angerichtet, die keine Phantasie groß und
grauenhaft genug ausmalt.
Wie diese beiden Kategorien des Unglücks
begrifflich scheiden? — Es ist weder nötig noch
möglich. Als uns der Schöpfer in dieses Wirrsal
der Welt austrieb, hat er die wunderbare Gabe
gewährt, vermeidbares und immanentes Unglück
kraft unseres Gefühles zu unterscheiden. Es
scheint mir, daß von allen menschlichen Gefühlen
dieses sogar eines der deutlichsten und stärksten
ist. Man hat es nur allzu oft betäubt . . .
Bürger beider Reiche der Mensch; und jedes
fordert ein durchaus anderes Verhalten von ihm,
— dies seine eigentliche, auf irdischer Ebene
nicht mehr heilbare Tragik . . . Edles Unglück
heißt ihn in Demut vergehen, unedles verlangt
Aktivität, politische Schlagkraft. Hier, im Reiche
abstellbaren Elends, herrscht Freiheit des Willens,
— dort unverdiente Gnade, Entrückung über
alle Kausalitäten hinweg. Unedles Unglück zeitigt
als Korrelat: allmähliches Vorrücken, Meliorismus,
asymptotenhafte Annäherung an ein unendlich
weit entferntes Ziel, — in Gnaden-Sphären gibt
es die plötzliche Umkehr, den Sprung, das so-
fortige außerzeitliche Besitzergreifen des Reiches,
das unsichtbar immer und überall unter uns ist.
Als „Unvereinbarkeit des Zusammengehörigen“
bezeichne ich (in dem Buche „Heidentum,
Christentum, Judentum“) jenes tragische Grund-
phänomen des Daseins, kraft dessen die beiden
Haltungen, die dem edlen und unedlen.Unglück
entsprechen, einander mit ebensolcher Entschie-
denheit (bei Gefahr sonstiger Verdorrung in sich
selbst) zur gegenseitigen Ergänzung verlangen
wie sie einander stören, ja ausschließen ... Ver-
zweifelte Situation des Menschen! Er läßt es
ein wenig an Beherrschung der Tiertriebe, an
Selbstbegrenzung, Besonnenheit fehlen, — und
schon ist der Krieg da. Andere aber sagen, der
Krieg sei gerade deshalb gekommen, weil man in
künstlichem Intellektualismus das Elementare allzu
sehr beherrscht, die natürlichen Regungen mecha-
nisiert habe. Also zwei Begründungsreihen: zu
viel Vitalität — zu wenig Vitalität! Und nun
das Furchtbare: beide Ansichten sind im Recht.
Dieser letzte Konflikt alles Menschlichen kann
nur durch ein Wunder aufgelöst werden. Daß
dieses Wunder, diese Wiedergeburt, diese Gnade
— ein rational völlig unfaßbarer Vorgang — hie
und da Tatsache wird, ist wo nicht der einzige,
doch der unmittelbarste Beweis für Gottes Da-
Der Mensch steht als ein körperliches, also
k durchaus endliches Wesen dem Unend-
lichen gegenüber. Dies ist unabwend-
bares Unglück, unheilbare Unvollkom-
menheit. Immer wieder seine Grenze fühlen, die
Unbeständigkeit des Herzens, den Verfall des
Edelmuts, die Abhängigkeit höchster Funktionen
von den niedrigsten, das Ermatten im Aufschwung,
die Lüge im aufrichtigsten Versuch der Ehrlichkeit,
— dies Orgelpunkt aller menschlichen Melodie.
Von solch „edlem“ Unglück deutlich abgehoben
erscheint eine ganze Dämonenhorde dunkler
Scheußlichkeiten (politischer, sozialer u. s. £), die
sich dem Menschen scheinbar ebenso unentrinn-
bar an die Fersen heften, die aber dennoch, wie
immer wieder das Beispiel einzelner und im
Großen geschichtliche Entwicklung zeigt, ab-
gestoßen und geradezu in die Luft zerblasen
werden. Es gibt also (und in diesem grauen-
haften Dasein ist dies eine Erkenntnis, die auf-
recht erhalten zu werden verdient) neben dem
„edlen“ Unglück, neben der unvermeidlichen
„Konfrontation mit dem Unendlichen“ auch ein
„unedles“ Unglück, das in die Macht des Men-
schen, in seinen Willen gestellt ist, dem er ab-
helfen kann, daher (aus dem Können ergibt sich
sofort Pflicht) abhelfen muß. — Unabsehbarer
Niedergang des menschlichen Daseins ist dadurch
verursacht worden, daß diese beiden Arten
menschlichen Unglücks zusammengeworfen und
dem unseligen Adam als ein einziges Riesen-
bündel auf den Rücken geschnallt wurden. Der
christliche Begriff der „Erbsünde“ hat Verwüs-
tungen angerichtet, die keine Phantasie groß und
grauenhaft genug ausmalt.
Wie diese beiden Kategorien des Unglücks
begrifflich scheiden? — Es ist weder nötig noch
möglich. Als uns der Schöpfer in dieses Wirrsal
der Welt austrieb, hat er die wunderbare Gabe
gewährt, vermeidbares und immanentes Unglück
kraft unseres Gefühles zu unterscheiden. Es
scheint mir, daß von allen menschlichen Gefühlen
dieses sogar eines der deutlichsten und stärksten
ist. Man hat es nur allzu oft betäubt . . .
Bürger beider Reiche der Mensch; und jedes
fordert ein durchaus anderes Verhalten von ihm,
— dies seine eigentliche, auf irdischer Ebene
nicht mehr heilbare Tragik . . . Edles Unglück
heißt ihn in Demut vergehen, unedles verlangt
Aktivität, politische Schlagkraft. Hier, im Reiche
abstellbaren Elends, herrscht Freiheit des Willens,
— dort unverdiente Gnade, Entrückung über
alle Kausalitäten hinweg. Unedles Unglück zeitigt
als Korrelat: allmähliches Vorrücken, Meliorismus,
asymptotenhafte Annäherung an ein unendlich
weit entferntes Ziel, — in Gnaden-Sphären gibt
es die plötzliche Umkehr, den Sprung, das so-
fortige außerzeitliche Besitzergreifen des Reiches,
das unsichtbar immer und überall unter uns ist.
Als „Unvereinbarkeit des Zusammengehörigen“
bezeichne ich (in dem Buche „Heidentum,
Christentum, Judentum“) jenes tragische Grund-
phänomen des Daseins, kraft dessen die beiden
Haltungen, die dem edlen und unedlen.Unglück
entsprechen, einander mit ebensolcher Entschie-
denheit (bei Gefahr sonstiger Verdorrung in sich
selbst) zur gegenseitigen Ergänzung verlangen
wie sie einander stören, ja ausschließen ... Ver-
zweifelte Situation des Menschen! Er läßt es
ein wenig an Beherrschung der Tiertriebe, an
Selbstbegrenzung, Besonnenheit fehlen, — und
schon ist der Krieg da. Andere aber sagen, der
Krieg sei gerade deshalb gekommen, weil man in
künstlichem Intellektualismus das Elementare allzu
sehr beherrscht, die natürlichen Regungen mecha-
nisiert habe. Also zwei Begründungsreihen: zu
viel Vitalität — zu wenig Vitalität! Und nun
das Furchtbare: beide Ansichten sind im Recht.
Dieser letzte Konflikt alles Menschlichen kann
nur durch ein Wunder aufgelöst werden. Daß
dieses Wunder, diese Wiedergeburt, diese Gnade
— ein rational völlig unfaßbarer Vorgang — hie
und da Tatsache wird, ist wo nicht der einzige,
doch der unmittelbarste Beweis für Gottes Da-