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Genius: Zeitschrift für werdende und alte Kunst — 1.1919

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Erstes Buch
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Dichtung und Menschheit
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Pinthus, Kurt: Rede an die Weltbürger
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https://doi.org/10.11588/diglit.61254#0192

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KURT PINTHUS / REDE AN DIE WELTBÜRGER

enschen aller Völker der Erde!
Ein kleiner Atemzug genügt, um mit
diesen fünf Worten die größte und
innigste denkbare Gemeinschaft aller
Menschen zu schaffen, deren Verwirklichung die
wälzende Gewalt der Jahrtausende nicht ver-
mochte.
Menschen aller Völker der Erde! O, daß die
liebende Leidenschaft, aus der diese fünf Worte
ich jetzt spreche, sich vertausendfachte, um so
schnell und einfach wie dies strahlende Wort-
Band: Menschen aller Völker der Erde Euch für
immer ineinanderzuschließen!
Winzige Wesen, die Ihr auf der Kruste dieses
kreisenden Planeten schwerfällig Euch bewegt,
verwirrt durch Worte knechtiger und knechten-
der Irrlehrer, verdorben durch die Untaten von
Führern, die jeden Einzelnen von Euch zur Un-
tat zwangen, — warum, Menschen, quält Ihr Euch
damit, in jedem, der neben Euch, mit Euch auf
Erden ist, das zu suchen, was ihn von Euch-
trennt, worin er verschieden von Euch ist, — statt
die Gemeinsamkeiten zu wissen, die ihn Euch
nähern und einen, um die Last der Welt außer
Euch, um das Da- und Miteinander-Sein leichter
zu ertragen?
Weil Ihr bestürzt feststelltet, daß die Haut-
farbe des einen dunkler ist als die des andern,
daß im Südlichen das Blut schneller kreist als im
Nördlichen, daß im Östlichen die Phantasie leuch-
tender malt, im Westlichen das Denken tiefer
ins Bewußtsein hinabsteigt, ließet Ihr Euch lehren,
daß Ihr einander für immer Feind sein müßtet,
daß ewig fremd die Einen im Lande des Anderen
sind, — und weil die Einen die Sprache der An-
deren nicht verstehen, weil ein Strom, ein Gebirg,
oder auch nur ein Grenzstein Euch scheidet, müsse
ein Volk herrschen über das andere, oder zu
seiner Erhaltung expansionswütig mit Macht sich
hineinfressen in das Land des Nachbarn.
Ihr saht nicht mehr, daß Ihr alle, jeglicher fünf
Finger habt an jeder Hand, jeglicher zwei Füße

und zwei Augen, und daß, wenn Ihr Euch Wun-
den schlagt, rotes Blut aus dem Leib eines jeg-
liehen von Euch fließt. Ihr vergaßet, daß in der
kleinen Kugel des Kopfes jeder die ganze Welt
trägt, Eure Welt, die jeder Einzelne von Euch
geschaffen hat, und daß Euch allen ein Herz in
der Brust schlägt, dessen letzter Schlag diese Welt
auslöscht.
Ist es nicht ein mächtigeres Wunder und eine
erhabenere Wirklichkeit als alle Eure tausend-
fachen Verschiedenheiten, daß alle Menschen aller
Völker und Zeiten, welcher Herkunft und wel-
chen Temperaments sie auch sind, ob Urmenschen
entlegenster Inseln oder nervöseste Durchraser
der Stadtlabyrinthe, daß alle die gleiche Sehn-
sucht in sich tragen nach Freude und Glück. • •
Liebe in sich zu saugen und Liebe aus sich zu
strömen . . . daß alle mit dem gleichen Schauder
der Ehrfurcht die unfaßbare Natur draußen er-
fühlen, und daß der gleiche Wille sie alle treibt
zu beseligender Hingabe, zum Klarwerden und
zur Tat . . . und daß Menschen aller Völker und
Zeiten mit allen Mitteln der Ausdrucksfähigkeit
menschlichen Geistes versuchten, diese Sehnsucht,
diesen Willen in wirkenden Werken zu formen!
Diese Sehnsucht und dieser Wille geben mit
das Recht, gleichviel welcher Farbe und Bildung
Euer Körper ist, in welchen Staat, welche Nation
oder Rasse Ihr zufällig hineingeboren seid, Euch,
Menschen aller Völker der Erde: Weltbürger!
anzureden, denn diese Sehnsucht und dieser Will6
ist es, was Euch inniger bindet und eint als die
weite Erde unter Euch, die Ihr alle tretet, und
der gewölbte Himmel, der Euch alle umschließt-
Ich wage das Wort Weltbürger, wiewohl ich
weiß, daß muffiger Schimmel das Wort Bürger
überfaulte, weil der Bürger selbst diese einst
ehrende Bezeichnung entstellte, seit seine stete
Geschäftigkeit zu einem Geschäft auf Kosten
Anderer wurde und die Beweglichkeit des rech-
nenden Mechanismus Geist und Herz zu ewiger
Trägheit verdammte.
 
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