WILHELM NIEMEYER / VON WESEN UND WANDLUNG DER PLASTIK
u
m das Wesen der Plastik zu begreifen
und aus diesem Begriff die großen Be-
wegungen der Entwicklung, die Mög-
lichkeiten ihrer Weiterwandlung abzu-
leiten, gibt sich das Denkmittel dar, ihre geistige
Gleichartigkeit mit den Schwesterkünsten Bau-
kunst und Malerei festzustellen, unter gleich-
zeitiger Abgrenzung ihres besonderen Form-
gebietes. Bauen, Malen und Bilden haben ihre
Gemeinsamkeit und sind Kunst darin, daß sie
grundlegende Beziehungen des Ich zur Wirklich-
keit in der Form reiner Vorstellungen, nämlich
geordnet zu einheitlich gesetzmäßiger und darum
völliger erschöpfender Vorstellbarkeit ver-
sinnlichen. Mit diesem Zug restloser Vollendbarkeit
scheidet sich die Kunst Vorstellung von der Wahr-
nehmung und Erinnerung. Beide schließen sich
an Gegebenheiten an und können darum niemals
unbedingt und endgültig sein. Die Kunstvorstellung
aber ist durchwaltet von rein inneren Gesetzen,
ist Abbild dieser Gesetze und darum völlig er-
schöpfbar und restlos klar. Man kann keine
Blume, wohl aber ein Ornament wie die Rosette,
keine Landschaft, aber ein Naturgemälde in voller
Ganzheit vorstellen. Die Seinswirklichkeit eines
Naturdinges ist niemals völlig durchsichtig, das
geistige Gebilde des Kunstwerks aber hat solche
Durchblickbarkeit. So begriffen ist Baukunst die-
jenige geistige Tätigkeit, die der allgemeinsten
unserer Beziehungen zum Sein, unserer Ein-
stellung als Leib in den Seinsraum, eine klare
Ordnung und gefestete Gestalt verleiht. Bau-
kunst ist Raumgestaltung. Form bedeutet ihr
der als Masse und Maß restlos und einheitlich
vorstellbare, ganz durchfühlbare Raum, das
seelisch beherrschte Raumgebilde. Die raum-
errichtende Masse, die stoffliche Raumhülle, wird
unter der Auswirkung dieser Raumformkraft zur
Bezeugung, zum Niederschlag und Abdruck der
geistigen Gesetze, nach denen die Raumanlage
sich ordnet und formt. So ist Bauschöpfung
Seele als Gebilde des Raums, menschliches Gleich-
nis der allumschließenden, allumfangenden Daseins-
weite. Für diese Entstehung der Raumgestalt
entscheidend und für ihre Formart bezeichnend
ist es dabei, daß der baulichen Schöpfung unser
Leib selbst als notwendiger Bestandteil, als Be-
zugspunkt der Formordnung zugehört. Als Einzel-
leib im Raumgebilde, als Gruppenleib, das ist
als Familie, Behörde oder Arbeitsgemeinschaft im
Raumgefüge des Hauses, als Massenleib, nämlich
als Gemeinde, Festversammlung oder Menschen-
menge im Großraum, in der Kirche, im Saal, in
der Verkehrshalle: immer ist der Körper Mitte
und Träger der Kunstform, sein Dasein der Form-
grund, seine Lebensbetätigung und seine Be-
wegung das Mittel der Formverwirklichung. Unser
äußeres Sein ist also hier vom Sein als Ganzheit
und darum auch vom Sein des Kunstwerks noch
ungeschieden.
Diese Scheidung erfolgt mit der geistigen Ein-
stellung, die als Erlebnisart der Malerei zugrunde
liegt. Hier sind wir als Leib, als Einzelwesen
dem Weltganzen, das wir anschauen, völlig ent-
nommen. Kunstinhalt ist die angeschaute Ding-
ordnung, der wir geistig inne sind, ihr als Leib
entzogen, um ihr seelisch einzuschmelzen. Diese
Aufhebung unserer Einzelheit als Leib schafft die
Möglichkeit, daß das Sein als Ganzheit der Außen-
welt in geschlossener Einheit uns erfaßbar und
vorstellbar werde. Es kann diejenige Seinsform hier
zum einzigen Erlebnis, zur klaren, in sich restlos
einheitlichen Vorstellung und damit zum Gegen-
stand der Kunst werden, die das Gesichtsdasein
des Alls ausmacht: die Farbe. Vom Sehweltbild
haben wir keinen anderen Begriff als den einer
Allheit von Dingfarben. Als feinst bestimmte,
schärfst besonderte Farbe vollendet sich und offen-
bart sich der gesichtliche Seinszusammenhang,
das Lebensmiteinander der Dinge. Als Farben-
gefüge und Farbenspiel erfahren wir die uns als
All des äußeren Seins entgegenstehende Erschei-
nungsform der Welt. Ist die Bauschöpfung daher
Seele als Raum, so ist das Bild Seele als Farbe.
u
m das Wesen der Plastik zu begreifen
und aus diesem Begriff die großen Be-
wegungen der Entwicklung, die Mög-
lichkeiten ihrer Weiterwandlung abzu-
leiten, gibt sich das Denkmittel dar, ihre geistige
Gleichartigkeit mit den Schwesterkünsten Bau-
kunst und Malerei festzustellen, unter gleich-
zeitiger Abgrenzung ihres besonderen Form-
gebietes. Bauen, Malen und Bilden haben ihre
Gemeinsamkeit und sind Kunst darin, daß sie
grundlegende Beziehungen des Ich zur Wirklich-
keit in der Form reiner Vorstellungen, nämlich
geordnet zu einheitlich gesetzmäßiger und darum
völliger erschöpfender Vorstellbarkeit ver-
sinnlichen. Mit diesem Zug restloser Vollendbarkeit
scheidet sich die Kunst Vorstellung von der Wahr-
nehmung und Erinnerung. Beide schließen sich
an Gegebenheiten an und können darum niemals
unbedingt und endgültig sein. Die Kunstvorstellung
aber ist durchwaltet von rein inneren Gesetzen,
ist Abbild dieser Gesetze und darum völlig er-
schöpfbar und restlos klar. Man kann keine
Blume, wohl aber ein Ornament wie die Rosette,
keine Landschaft, aber ein Naturgemälde in voller
Ganzheit vorstellen. Die Seinswirklichkeit eines
Naturdinges ist niemals völlig durchsichtig, das
geistige Gebilde des Kunstwerks aber hat solche
Durchblickbarkeit. So begriffen ist Baukunst die-
jenige geistige Tätigkeit, die der allgemeinsten
unserer Beziehungen zum Sein, unserer Ein-
stellung als Leib in den Seinsraum, eine klare
Ordnung und gefestete Gestalt verleiht. Bau-
kunst ist Raumgestaltung. Form bedeutet ihr
der als Masse und Maß restlos und einheitlich
vorstellbare, ganz durchfühlbare Raum, das
seelisch beherrschte Raumgebilde. Die raum-
errichtende Masse, die stoffliche Raumhülle, wird
unter der Auswirkung dieser Raumformkraft zur
Bezeugung, zum Niederschlag und Abdruck der
geistigen Gesetze, nach denen die Raumanlage
sich ordnet und formt. So ist Bauschöpfung
Seele als Gebilde des Raums, menschliches Gleich-
nis der allumschließenden, allumfangenden Daseins-
weite. Für diese Entstehung der Raumgestalt
entscheidend und für ihre Formart bezeichnend
ist es dabei, daß der baulichen Schöpfung unser
Leib selbst als notwendiger Bestandteil, als Be-
zugspunkt der Formordnung zugehört. Als Einzel-
leib im Raumgebilde, als Gruppenleib, das ist
als Familie, Behörde oder Arbeitsgemeinschaft im
Raumgefüge des Hauses, als Massenleib, nämlich
als Gemeinde, Festversammlung oder Menschen-
menge im Großraum, in der Kirche, im Saal, in
der Verkehrshalle: immer ist der Körper Mitte
und Träger der Kunstform, sein Dasein der Form-
grund, seine Lebensbetätigung und seine Be-
wegung das Mittel der Formverwirklichung. Unser
äußeres Sein ist also hier vom Sein als Ganzheit
und darum auch vom Sein des Kunstwerks noch
ungeschieden.
Diese Scheidung erfolgt mit der geistigen Ein-
stellung, die als Erlebnisart der Malerei zugrunde
liegt. Hier sind wir als Leib, als Einzelwesen
dem Weltganzen, das wir anschauen, völlig ent-
nommen. Kunstinhalt ist die angeschaute Ding-
ordnung, der wir geistig inne sind, ihr als Leib
entzogen, um ihr seelisch einzuschmelzen. Diese
Aufhebung unserer Einzelheit als Leib schafft die
Möglichkeit, daß das Sein als Ganzheit der Außen-
welt in geschlossener Einheit uns erfaßbar und
vorstellbar werde. Es kann diejenige Seinsform hier
zum einzigen Erlebnis, zur klaren, in sich restlos
einheitlichen Vorstellung und damit zum Gegen-
stand der Kunst werden, die das Gesichtsdasein
des Alls ausmacht: die Farbe. Vom Sehweltbild
haben wir keinen anderen Begriff als den einer
Allheit von Dingfarben. Als feinst bestimmte,
schärfst besonderte Farbe vollendet sich und offen-
bart sich der gesichtliche Seinszusammenhang,
das Lebensmiteinander der Dinge. Als Farben-
gefüge und Farbenspiel erfahren wir die uns als
All des äußeren Seins entgegenstehende Erschei-
nungsform der Welt. Ist die Bauschöpfung daher
Seele als Raum, so ist das Bild Seele als Farbe.