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unvergeßlichen Zusammenklang von Graublau, Scharlach und Bernsteingelb. Aber wenn man
versucht, seinen Harmonien mit Worten nachzukommen, muß man sich beeilen hinzuzufügen,
daß natürlich von dieser Feinheit kein Wort eine Vorstellung geben kann (oder nur das Wort
eines Dichters), daß das Wesentliche, die Nuance und das Mischungsverhältnis nur gesehen und
gefühlt und nicht geschildert werden kann, und daß dem Chronisten nichts anderes bleibt, als ein
paar Schlagworte, die in diesem Falle lauten: äußerste Feinheit bei intensivster dekorativer
Haltung. Man hat Ursache, das Dekorative bei Lautrec besonders zu betonen, weil in unserer Zeit
das Dekorative so oft mit dem Ornamentalen verwechselt wird, mit dem Kunstgewerblichen und
»Stilisierten«. Nein, ornamental ist Lautrec nicht. Sein Dekoratives liegt viel tiefer als im Buch-
schmuck, und er bedeutet einen Gegenpol zu der jetzt modernen Richtung von dekorativer
Zeichnung, die von Beardsley ausging. Denn gegenüber dem Erstarrten, den unbeweglichen Linien
und den unbelebten Flächen dieser Art — gegenüber dem Geschmäcklerischen, das eklektisch die
innerlich heterogensten Elemente zusammenbraut, griechische Vasenbilder, Mantegna und Japan,
gegenüber dieser im Grunde mattherzigen Kunst bedeutet Lautrec das Leben, das pulsierende,
nach Ausdruck verlangende Leben der künstlerischen Kraft und Naivität.

Über Lautrecs Stellung in der modernen Kunstgeschichte ist das Wesentliche schon gesagt
bei dem Hinweis auf Degas. Der früh Verstorbene wirkt neben ihm wie ein unheimlicher Kronprinz.
Lautrecs Anfänge mögen bei Daumier liegen. Es gibt einige Blätter, die an ihn erinnern in ihrer
Charakteristik sowohl wie in ihrer Haltung; sie zeigen noch nicht den leichten und vielseitigen
Strich, den er dann später ausgebildet hat. Eine gewisse Geistesverwandtschaft zwischen den
beiden muß tatsächlich bestanden haben, auch in ihren Schwächen. Beide sind an Qualität merk-
würdig ungleichmäßig, und beide haben sie eine Neigung für eine besondere Art von Groteske,
die spezifisch gallisch und allgemein menschlich nur wenig genießbar ist: die Art von Persiflierung
des klassischen Altertums. Daumiers Griechen und Lautrecs Römer sind Geschöpfe von einer
unangenehmen Geistesart, nicht großartig grotesk, vielmehr kleinlich pennälerhaft. Wann bei
Lautrec die Beziehungen zu Daumiers Graphik besonders stark waren, ist nicht bekannt. Man
möchte sie in die Anfänge seiner Entwicklung verlegen. Aber Entscheidendes läßt sich über seine
Entwicklung gar nicht sagen. Nur selten hat er seine Blätter datiert, und diese wenigen Daten
mahnen zu besonderer Vorsicht. Verhältnismäßig früh sind zum Beispiel unerhört kühne und
unumwundene Karikaturen, denen man es ohne Datum nicht ganz zutrauen würde. Aber es ist ja
kein seltener Fall, daß ein Künstler von so ausgesprochener Eigenart und so heftiger Selbständig-
keit schon früh reif ist.

Die menschliche Wirkung von Lautrecs Kunst auf unverbildete Naturen ist sehr tief und sehr
eindringlich. Wer sich zu ihm bekannt hat, verdankt ihm erlesene Genüsse des Gefühls und des
Geistes. Der Freimut und die Aufrichtigkeit dieses"Schaffens haben etwas begeisternd Starkes,
vor dem alle Einwendungen der Angstlichen hinfällig werden, besonders wenn sie sich auf das
Gebiet der öffentlichen Sittlichkeit erstrecken. Man hat Lautrec obszön genannt, auch in der
jüngsten Vergangenheit wieder. Aber eine Zeit, die sich jahrelang allwöchentlich Produkte wie
etwa die des verstorbenen Zeichners Reznicek gefallen ließ, hat sich endgültig des Anrechts
begeben, über die Sittlichkeit eines großen Aufrichtigen zu Gericht zu sitzen, über dessen CEuvre
man als passendsten Titel den eines allmählich klassisch werdenden Buches gleicher Rasse setzen
könnte: »Education sentimentale«.

Emil Waldmann.
 
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