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Gesellschaft für Vervielfältigende Kunst [Hrsg.]
Die Graphischen Künste — 36.1913

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Haberditzl, Franz Martin: Über Handzeichnungen
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https://doi.org/10.11588/diglit.3752#0098
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die Wirklichkeit, an eine vergleichsweise vorgestellte Wirklichkeit: es sind die Entwicklungsgesetze
des Naturalismus. Der höhere Grad der Wirklichkeitsnähe entscheidet für den Vorrang des geeig-
netsten Vergleichsobjektes: der Malerei.

Daß aber die Kunstentwicklung durch einen fortlaufenden Vergleich mit einer vorgestellten
Wirklichkeit weder richtig noch deutlich erkannt werden kann, ist selbstverständlich. Das Verlangen
nach einer Ordnung in der Fülle künstlerischer Fragen, die in dieser Entwicklungsreihe unerledigt
bleiben mußten, — die wir als die eigentlichen künstlerischen Probleme ansprechen, — kommt
namentlich in der neuesten Literatur deutlich zum Ausdruck. Die präziseste Formulierung gab
Wilhelm Worringer in seiner großzügigen Untersuchung über Abstraktion und Einfühlung. Aber das
antagonistische Prinzip, das in dem Gegensatz dieser beiden künstlerischen Tendenzen für eine
Gesamtentwicklung maßgebend sein soll, ist unhistorisch, ästhetisch nicht befriedigender als der
antiquierte Schönheitskanon, der beiden Richtungen von einem Standpunkt aus gerecht werden
konnte. Der Vergleich des Kunstwerks mit einer vorgestellten Wirklichkeit hat die Bedeutung
eines objektiven Vergleichskriteriums. Es gibt aber gewiß noch andere Vergleichs- und Erkenntms-
möglichkeiten formaler Gestaltung, die nicht auf spekulativer Grundlage beruhen. Wenn wir von
der malerischen Wirkung einer Barockfassade oder dem plastischen Eindruck einer Figur auf
Mantegnas Gemälden oder dem tektonischen Aufbau einer Gruppe in Bildern Raffaels sprechen, so
vergleichen wir nicht mit der Wirklichkeit, sondern charakterisieren die formale Gestaltung durch
einen Vergleich künstlerischer Ausdrucksmittel. Eine psychologische Vertiefung solcher Vergleichs-
methode erkennen wir in den Resultaten von Riegls Auffassung optischer und haptischer Werte,
die freilich aus anderem Ideenkomplex entstanden und dadurch, daß sie unsere eigene Formen-
apperzeption zu umgrenzen sucht, auch anders orientiert ist. Eine weitere Erkenntnismöglichkeit
formaler Gestaltung bietet eine Charakteristik der Technik. Die ästhetische Forschung hat der
psychologischen Erklärung der Technik von jeher ein besonderes Interesse zugewandt, das
sich bisweilen so weit verstiegen hat, aus der Technik das künstlerische Wesen überhaupt zu
begreifen. So wertvoll die Methode und ihre Ergebnisse sind, können sie doch nur zur Feststellung
von Tatsachen, nicht zu ihrer Erklärung dienen.

Man möchte nun meinen, daß das Studium der Handzeichnungen eine Fülle von Beobachtungen
formaler Prinzipien durch die Präzisierung ihrer künstlerischen und technischen Eigenart und ver-
möge ihres innigen Konnexes mit den übrigen Künsten offenbaren kann.

Nur in einigen Beispielen möge auf die theoretische Beschäftigung mit derartigen Fragen
hingewiesen werden. Wir erinnern uns einer interessanten Studie Ferdinand Labans in dieser Zeit-
schrift über die Handzeichnungen auf der Berliner Jahrhundertausstellung, die die Frage erörtert,
warum man den Zeichnungen eine besondere künstlerische Intimität zuerkennt und die zu dem
Ergebnis gelangt, dieses Urteil sei nicht ganz berechtigt, da z. B. Künstler wie Jan van Eyck oder
Waldmüller ihr Intimstes gerade in den vollendetsten Werken ausgesprochen haben. Schon die
Fragestellung und ihre selbstgenügsame Beantwortung, das Zeichnen sei lediglich eine der ver-
schiedenen Ausdrucksmöglichkeiten des bildenden Künstlers, verhindern ein Zurechtfinden auf
diesem Wege. Der Ausdruck »Intimität« ist ein gefühlsmäßiger Sammelbegriff, selbst im Bereiche der
Zeichnung vieldeutig; er kann einmal den genauen Einblick in das künstlerische Verhältnis von der
vorbereitenden Zeichnung zum ausgeführten Kunstwerk bezeichnen, dann wieder, wie der Hinweis
auf Jan van Eycks Bilder zeigt, nur eine besonders eingehende und getreue, das heißt wirklich-
keitsgetreue Darstellung gelten lassen und vermag schließlich den eigentlichen wirklichkeitsfernen
Charakter der Zeichnung nur unbestimmt und für viele gar nicht verständlich zu umschreiben. Eine

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