Universitätsbibliothek HeidelbergUniversitätsbibliothek Heidelberg
Überblick
loading ...
Faksimile
0.5
1 cm
facsimile
Vollansicht
OCR-Volltext
verschmäht; dennoch ist der
Gesamteindruck der des tiefsten
Mitleids eines fühlenden Men-
schen, der das Erlebnis jedes
einzelnen der Ausziehenden zu
seinem eigenen gemacht zu
haben scheint. Ähnlich, wenn-
gleich nicht so kraß, tritt uns
dieser von der Karikatur durch-
aus abweichende seelische Ge-
halt in der großen Reihe von
Wiener Skizzen und Studien
entgegen, die Gerstenbrand ge-
schaffen hat.

Fragen wir uns, worin
diese Eigenart besteht, die
Gerstenbrand zu dem land-
läufigen Begriff der Karikatu-
risten in so starken Gegensatz
bringt, so finden wir deren Ur-
grund in seinem unbeirrbaren
Streben nach höchster künst-
lerischer Intensität, in seinem
unentwegten Bemühen, unter die
Oberfläche, die Schale der Dinge zu gelangen und deren Kern herauszuarbeiten. Aus den einzelnen
Zügen eines Gesichtes formt sich ihm dessen großes oder kleines Schicksal; noch mehr: aus einer
meisterhaft festgehaltenen Geste, aus der gegenseitigen Abstimmung der körperlichen Proportionen,
selbst aus ganz unbelebten Dingen, einer Gewandfalte, einem Möbelstück, erwächst ihm eine Welt,
die sich zur bestehenden verhält etwa wie ein anatomisches Präparat zu dessen Material. Gersten-
brand gehört zu den stärksten Analytikern unter den Künstlern unserer Zeit und führt die Synthese
nur so weit durch, als es unumgänglich nötig ist, um ein vereinendes, umschließendes Band um
die Einzelerscheinungen herzustellen. In dieser Hinsicht erinnert er an die großen französischen
Zeichner der Jahrhundertwende, einen Steinlen, einen Toulouse-Lautrec. Nur daß er freilich unserem
Empfinden ganz anders nahesteht, in seiner Betrachtungsweise uns verwandt ist, durch einen Zug
liebenswürdiger wienerischer Romantik, der den nach dem Esprit, der Pointe strebenden, im Grunde
nüchternen Franzosen durchaus fern liegt.

Dieses Wienertum Gerstenbrands hat seinen wohlberechtigten Grund in Herkunft und Lebens-
gang des Künstlers. Von Geburt wie nach Abstammung und innerem und äußerem Werdegang ist
Gerstenbrand Vollblutwiener. Im Jahre 1884 auf der Wieden als Sohn eines höheren Ministerial-
beamten geboren, der Sproß einer alten, erbeingesessenen Wiener Familie, besuchte er die Ober-
realschule seines Heimatbezirkes und nach glücklich bestandener Matura die Kunstgewerbeschule,
wo Lehrer wie Koloman Moser, Josef Hoffmann und Berthold Löffler entscheidenden Einfluß auf
ihn ausübten. Wien ist der Brennpunkt, in dem sein Wesen und seine schaffenden Kräfte sich
sammeln. Der Boden, der schon dem Fremdgekommenen seinen Stempel unauslöschlich eindrückt,

Alfred Gerstenbrand, Rue Anastasie, Alexandria.

Farbstiftzeichnune

64
 
Annotationen