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Gleichen-Rußwurm, Alexander
Die Schönheit: ein Buch der Sehnsucht — Stuttgart: Verlag Julius Hoffmann, 1916

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https://doi.org/10.11588/diglit.65310#0023
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III

Das zur Offenbarung drängende Schönheitsideal verschiedener
Völker ist deutlich in ihren Mythologien, Tempelbauten und
heiligen Schriften ausgeprägt. In der Sprachbildung wird am auf-
fallendsten das geheimnisvolle Walten menschlicher Schöpferkraft
dem Denkenden bewußt. Denn die Sprache ist unsere erste und
vornehmste Kunstübung.
Die zwingende Größe der Metapher in ältester Dichtung zeigt den
eigentlichen Thronsitz der Sprachgewalt. Unmittelbar wie im Traum
ein Gleichnis dem Anschlag der Empfindung folgt, so geschieht es
dem dichtenden, sprachbildenden Geist.
Das Sinnliche muß das Geistige, das Geistige das Sinnliche er-
klären.
Vor gewissen Naturschauspielen und vor seelischen Ereignissen schlägt
dasselbe Gefühl an, und dasselbe Bild antwortet. Sonnenuntergang,
Winter, Tod sind zum Beispiel durch Analogie der Stimmung
verwandt, ehe sich der Mensch absichtlich davon Rechenschaft gibt
und absichtlich eines als Bild des anderen gebraucht.
Die herrlichsten Bilder, unser aller unveräußerlicher Besitz, sind
gleichzeitig Gefühle seelischen Wachwerdens.
Zu diesem seelischen Wachwerden gehört ebenso unmittelbar die
Vorstellung von Göttern. In ihnen gewinnen unsere ursprünglichsten
Metaphern einen Grad der Körperlichkeit. Wir stellen diese Kunst-
werke aus eigenem Leben ins Leben und dann — wunderbar ge-
nug — erwacht kritischer Geist, Verbesserungsinstinkt, mystische
Unzufriedenheit, der Anfang allen Fortschritts und wir bilden halb
bewußt, halb unbewußt an ihnen weiter und dadurch weiter an
uns selbst.
Wir unterstellen unsere Götter einem Gesetz, das in der eigenen
Brust lebt: Sie sollen schön sein.
Ein machtvolles Streben des harmonisch wachsenden Menschen zeigt
sich darin, seine Götter mit harmonischem Wachstum zu bedenken,
wie es die Griechen so auffallend getan. Wer seine Götter ver-
bessert, verbessert auch seine Gesetze.
Wir sehen die Geburt der öffentlichen Meinung, der freien Bürger-
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