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gewirkt hatte. Ihr Einfluß auf die deutsche klassische Zeit ist un-
verkennbar.
Wie der erste Einbruch der Gefühlswelt einst die Mauern der an-
tiken Weltanschauung zerstört hatte, bedeutete er jetzt eine außer-
ordentliche Umwälzung der ästhetischen Begriffe, die seit der Re-
naissance entstanden waren.
Endlich wird das Wort gusto — goüt — Geschmack in der Philo-
sophie lebendig.
Sein erweiterter Begriff bildet allmählich, mehr oder weniger ver-
schmolzen mit demjenigen der Einbildung und Empfindung, den
Kern eines neuen Ideals, das die verschiedensten Philosophen ver-
künden, am nachdrücklichsten Shaftesbury, am elegantesten die
französischen Moralisten des grand siecle.
Die Wertung des Geschmacks als einer schönen Charaktereigen-
schaft begann, streng genommen, schon in der italienischen Renais-
sance, als Castiglione ihn am Cortegiano pries und Ariosto im Or-
lando furioso den merkwürdigen Ausspruch über Kaiser Augustus tat:
L'aver avuto in poesia buon gusto
La proscrizione iniqua gli perdona.
Diese Ansicht, daß nämlich die ungerechten Verfolgungen des
Augustus Vergebung fänden um seines guten Geschmackes willen,
ist außerordentlich wichtig und charakteristisch. Der Vers über
den römischen Kaiser mußte den großen Herren der Renaissance,
die gleichzeitig skrupellose Banditen und feinsinnige Kunstförderer
waren, lieblich ins Ohr klingen. Kein Dichter oder Philosoph hätte
solch ein Wort im Mittelalter, auch keiner im Altertum aussprechen
dürfen, es sei denn ein Nero, den man für wahnsinnig gehalten.
Vom 16. Jahrhundert an geriet aber eine derartige Wertschätzung
oder Überschätzung der schönen Künste nach und nach ins all-
gemeine Bewußtsein, und man begann zu glauben, daß der gute
Geschmack eine Tugend, vielleicht sogar die schönste Tugend sei,
um deren willen alle Untugenden Verzeihung fänden.
Der Mann von gutem Geschmack ersetzt als ästhetisches Ideal den
Weisen des Altertums, den Heiligen des ersten Christentums und
den waffenfrohen Ritter des Mittelalters in den Augen strebsamer
Jugend.

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