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ging. Dieses Vergnügen nimmt bei ihm einen mittleren Rang zwi-
schen geistigem und sinnlichem Genuß ein und wird besonders
darum als wertvoll eingeschätzt, weil es die Beobachtungsgabe
schärft. Es soll namentlich den Kunstfreunden helfen, klar zu son-
dern, wie man bei richtigem Unterscheiden von Kopie und Original
empfindet.
Bald mit der Phantasie verquickt, bald von ihr abgegrenzt erscheint
auch im 17. Jahrhundert der Begriff sentiment — sentimento, emotion
—, der in der Folge von den Deutschen mit Empfindung und Emp-
findsamkeit übersetzt wurde.
Französische Schriftsteller kämpften zuerst miteinander um diesen
Begriff. So tritt Dubos in den Reflexions critiqu.es sur la poesie,
la peinture et la musique gegen Malebranche auf, der behauptet
hatte, Kunstgenuß sei verstandesmäßig zu erreichen. Dubos findet
aber, daß zu diesem Genuß der sechste Sinn, le sentiment, er-
forderlich sei, den er für nichts anderes hält, als eine Hingabe dem
äußeren Eindruck gegenüber.
Artig versteht es der Abbe, sich gegen Malebranche zu verteidigen,
der die Macht der Einbildungskraft in bilderreicher Sprache an-
gegriffen hatte, und meint, daß in der Empfindung Kunstwerken
gegenüber das Urteil vom Gefühl besiegt werde.
Im Gegensatz zu den früheren didaktischen Begriffen über die Auf-
gaben der Poesie, die allzeit von Pedanten vertreten wurden und
werden, behauptet die neue Kunstanschauung, daß die Geschicklich-
keit eines Schriftstellers, der gefallen will, darin bestehe, die Ge-
danken in Gefühle zu verwandeln. Man stellte den Grundsatz auf,
daß die Dichtkunst im Ausdruck der Gefühle Höhepunkt und Zweck
erreiche *).
Solche Ansichten tauchten anfangs vereinzelt auf, beschäftigten aber
bald in steigendem Maße Dichter, Denker und Publikum. Sie be-
reiteten das Zeitalter der Empfindsamkeit vor, indem sie das Gefühl
auf den Geist einwirken ließen, wie es einst auf den Glauben ein-

*) Le grand talent d un ecrivain qui veut plaire est de tourner ses reflexions
en sentiments, sagt Cartaut de la Villatte und Trublet meint: C’est un
principe sür que la poesie doit etre une expression du sentiment.
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