Universitätsbibliothek HeidelbergUniversitätsbibliothek Heidelberg
Überblick
Faksimile
0.5
1 cm
facsimile
Vollansicht
OCR-Volltext
XXVII

Der erste deutsche Philosoph, der sich mit dem Schönheits-
ideal bedeutsam beschäftigte und dabei der Musik philosophisch
gedachte, ist Gottfried Wilhelm Leibniz, Zeitgenosse des älteren
Bach und der frühen Offenbarungen des Johann Sebastian.
Dieser Zusammenhang ist kaum bemerkt, und doch erscheint er
wichtig für die Geschichte der menschlichen Sehnsucht.
Als für Europa die Zeit hereinbrach, da der bisher verhältnismäßig
arme Westen reich wurde wie das fabelhafte Morgenland, als mate-
rielle Güter den idealen Sinn der kulturtragenden Völker immer
mehr zu ersticken begannen, als jener ungeheuere geistige und tech-
nische Fortschritt anhub, der gleichzeitig auf psychischem Gebiet
einen verhängnisvollen Rückschritt mit sich brachte und bringen
mußte, stieg zur Erlösung und Rettung die gnostische Sophia in
neuer Gestalt zur Erde nieder.
Sie sprach als reine Musik zu den Menschen, sie lehrte einen Leibniz
die Welt als musikalisch abgestimmte Harmonie zu erfassen und
einen Bach aus der Tiefe des Gemüts den großen Gedanken in feier-
lichen aber doch heimisch trauten Tönen auszudeuten.
Um diese Sendung, diese Mahnung und Ermahnung der Musik zu
begreifen, muß man freilich die Ergebnisse der allzu neuzeitlichen
Tonkunst aus dem Ohr verlieren. Denn was den Sinnen schmeichelt,
oder sie verwirrt und betört, was seinen Stolz in jener Nachahmung*)
sucht, die Platon befürchtete und rügte, ja verbannt aus seinem
Idealstaat wissen wollte, gehört auch nicht zu dem wohltemperierten
Reich der Schönheit, von dem Leibniz mit barocker Anmut träumte.
Sein Schönheitsideal bestand in Anmut und Würde, Maß und Ge-
messenheit, denselben Forderungen an weiser Harmonie, die der
erste große deutsche Musiker aufstellte.
Wohl lauschten beide den Stimmen der Natur, aber nur um sie
neu aus sich heraus zu gebären nach einem zwingenden Rhythmus,
dessen Zwang durch Seelengröße und Freiheit bedingt, vor gewissen
Grenzen freiwillig anhält. Die verschlungensten Stimmen, deren
jede für sich selbständig den höchsten Wert, den Wert der Persönlich-
*) μιρησις — imitatio.
115
 
Annotationen