der bestehenden gesellschaftlichen Ordnung den Kopf angerannt
und vergaß die Beulen nicht. Ihr gewaltsames Zurückschrauben auf
eine fernliegende Entwicklungsstufe war wirklich sein feuriger
Wunsch.
Als er jene Schrift über den Ursprung der Ungleichheit an Voltaire
sandte, antwortete dieser, daß noch niemals jemand so viel Geist
aufgewendet habe, uns zu Tieren zu machen, man bekomme ordent-
lich Lust, auf allen Vieren zu laufen.
Beide Widersacher, Rousseau und Voltaire, haben wegen der poli-
tischen und sozialen Entwicklung, in der sie standen und auf die
beide als Nebenbuhler stark einwirkten, sehr verschiedene und sehr
ungerechte Wertschätzung erfahren. Mit unbefangener Betrachtung
dürfte solcher Irrtum etwas zurechtgerückt werden.
Rousseau verhält sich zu Voltaire, wie die Phrase zur Tat. Was
Rousseaus schöne Worte versprachen, hielt Voltaire wirklich. Er
war ein menschenfreundlicher Mann, der aus innerer Vornehmheit
heraus unablässig wohltat. Aber eine unglückliche Verschämtheit
der Seele zwang ihn, über alles zu spotten, was ihn eigentlich
rührte.
Vielleicht wäre Voltaires Toleranz nicht so echt und groß gewesen,
wenn er nicht unter dem Zwang des Spottes gestanden hätte. Um
nur ein Beispiel seiner merkwürdigen Güte zu geben, sei die Ge-
schichte erzählt, daß seine Freunde, um sich über diese Eigenschaft
lustig zu machen, ihm eines Tages den Besuch Rousseaus ankündigten,
eben dieses Rousseau, der ihn auf heimtückische Weise angegriffen
und seinen Lieblingsplan, den Genfern ein Theater als Bildungs-
stätte zu schenken, durch die heuchlerische Schrift Lettre sur les
spectacles vernichtet hatte. Voltaire ist zuerst wütend und möchte
den Kerl hinauswerfen lassen. Da bemerkt jemand, Rousseau sei
im Elend und brauche Hilfe. Flugs sattelt der Alte von Ferney
um, ist begeistert von der Aussicht, seinen Gegner bei sich zu
sehen, will ihn bewirten, anhören, ans Herz drücken.
So übte Voltaire ganz naiv jene ästhetische Tugend, die der andere
deklamatorisch pries. Bis in Einzelheiten geht Voltaires Fürsorge für
alle, denen er irgendwie nützlich sein kann. Rousseau sorgt nicht ein-
mal für seine eigenen Kinder, sondern läßt sie im Findelhaus.
143
und vergaß die Beulen nicht. Ihr gewaltsames Zurückschrauben auf
eine fernliegende Entwicklungsstufe war wirklich sein feuriger
Wunsch.
Als er jene Schrift über den Ursprung der Ungleichheit an Voltaire
sandte, antwortete dieser, daß noch niemals jemand so viel Geist
aufgewendet habe, uns zu Tieren zu machen, man bekomme ordent-
lich Lust, auf allen Vieren zu laufen.
Beide Widersacher, Rousseau und Voltaire, haben wegen der poli-
tischen und sozialen Entwicklung, in der sie standen und auf die
beide als Nebenbuhler stark einwirkten, sehr verschiedene und sehr
ungerechte Wertschätzung erfahren. Mit unbefangener Betrachtung
dürfte solcher Irrtum etwas zurechtgerückt werden.
Rousseau verhält sich zu Voltaire, wie die Phrase zur Tat. Was
Rousseaus schöne Worte versprachen, hielt Voltaire wirklich. Er
war ein menschenfreundlicher Mann, der aus innerer Vornehmheit
heraus unablässig wohltat. Aber eine unglückliche Verschämtheit
der Seele zwang ihn, über alles zu spotten, was ihn eigentlich
rührte.
Vielleicht wäre Voltaires Toleranz nicht so echt und groß gewesen,
wenn er nicht unter dem Zwang des Spottes gestanden hätte. Um
nur ein Beispiel seiner merkwürdigen Güte zu geben, sei die Ge-
schichte erzählt, daß seine Freunde, um sich über diese Eigenschaft
lustig zu machen, ihm eines Tages den Besuch Rousseaus ankündigten,
eben dieses Rousseau, der ihn auf heimtückische Weise angegriffen
und seinen Lieblingsplan, den Genfern ein Theater als Bildungs-
stätte zu schenken, durch die heuchlerische Schrift Lettre sur les
spectacles vernichtet hatte. Voltaire ist zuerst wütend und möchte
den Kerl hinauswerfen lassen. Da bemerkt jemand, Rousseau sei
im Elend und brauche Hilfe. Flugs sattelt der Alte von Ferney
um, ist begeistert von der Aussicht, seinen Gegner bei sich zu
sehen, will ihn bewirten, anhören, ans Herz drücken.
So übte Voltaire ganz naiv jene ästhetische Tugend, die der andere
deklamatorisch pries. Bis in Einzelheiten geht Voltaires Fürsorge für
alle, denen er irgendwie nützlich sein kann. Rousseau sorgt nicht ein-
mal für seine eigenen Kinder, sondern läßt sie im Findelhaus.
143