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Gleichen-Rußwurm, Alexander
Die Schönheit: ein Buch der Sehnsucht — Stuttgart: Verlag Julius Hoffmann, 1916

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https://doi.org/10.11588/diglit.65310#0200
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Dies ist auch der leitende Gedanke des Romans von Wilhelm Meister,
einem Schönheitssucher, den Goethe dazu führt, das Ideal der Selbst-
beschränkung aus dunkelstrebendem Bildungsdrang zu formen.
Nach Schillers Urteil enthalten Wilhelm Meisters Lehrjahre die
Bildungsgeschichte eines Menschen, der von unbestimmtem Schwär-
men in bestimmtes werktätiges Leben tritt, ohne die idealisierende
Kraft einzubüßen. Das ist der Übergang von unklarer Schönheits-
sehnsucht zum bewußten ästhetischen Verständnis.
Der Einfluß der Kunst auf dieses vorbildliche Leben, namentlich
der Bühnenkunst, entspricht der Zeitstimmung. Im 18. Jahrhundert
kam die Wirkung des Schauspiels auf das deutsche Bürgertum fast
der Wirkung gleich, die es im 17. auf Frankreichs große Welt
ausgeübt.
Nun wollte man auf der Bühne eine Leidenschaft verwirklichen,
die das Leben versagte. Die Szene lehrt Wilhelm den Grundirrtum
seiner jugendhaften Anschauung. Alle Mühe ist umsonst, den
Grenzen des Alltags entfliehen zu wollen. Das Gebot einer klugen,
ästhetisch aufgebauten Weltbetrachtung lautet, daß Menschenglück
und Menschenwürde nicht in der Ablehnung, sondern in der rich-
tigen Behandlung des unabwendbar Wirklichen liegen. Goethe
drückt es mit den Worten aus, daß man nicht eher glücklich sei,
als bis sich das unbedingte Streben selbst die Grenzen bestimme.
Strebend, suchend, genarrt vom Schicksal und vom eigenen Her-
zen gelangt der junge Meister durch die Fährlichkeiten seiner
Lehrjahre.
Wenn seine Schönheitssehnsucht zuerst auch nur knabenhaft, sinn-
lich und phantastisch schwärmerisch ist, bleibt sie doch wertvoll
als Sehnsucht. Nach Platons Anweisung gelangt er vom äußerlich
Schönen, von seiner Marianne und Philine, zu der schönen Seele,
der vornehmen, durchsichtig klaren Natalie.
Natalie übt alle Tugenden, die sich andere mit Plage anzueignen
suchen, weil sie nicht anders kann, weil es ihre schöne Seele un-
widerstehlich dahin zieht, zu bessern, zu helfen, zu ergänzen und
zu vollenden, genau wie es den wahren Künstler unwiderstehlich
treibt, zu bessern und zu vollenden, aus Freude zu vollbringen,
was zur Schönheit führt.
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