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Gleichen-Rußwurm, Alexander
Die Schönheit: ein Buch der Sehnsucht — Stuttgart: Verlag Julius Hoffmann, 1916

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https://doi.org/10.11588/diglit.65310#0201
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In Natalie erblicken wir alle Liebenswürdigkeiten der ästhetischen
Tugend zusammengefaßt, nachdem einige derselben an verschie-
denen Mitspielern des Romans, wie versuchsweise verkörpert er-
scheinen.
Bedeutsam ist der Satz aus dem Lehrbrief, der sich feierlich auf-
richtet gegen die philosophische Rechthaberei und der ästhetischen
Tugend den Vorrang zuspricht: Niemand weiß, was er tut, wenn er
recht handelt, aber des Unrechten sind wir uns immer bewußt.
Der naiv rechthaberische Werner bleibt in breitem Philistertum
stecken und wundert sich, wie schön der als verlorener Sohn ver-
leumdete Wilhelm in seinen Lehrjahren geworden sei. Es war das
äußere Schönwerden, das mit der inneren Bildung zusammenhängt.
Wilhelm war ausgegangen nach der Schauspielkunst, was er aber
findet, ist Lebenskunst.
Weise Freundschaft, unerläßlich zur Seelenbildung wie Platon ge-
wollt, hilft ihm dazu, denn im Verkehr mit dem Guten und Schönen
wird das eigene Gutundschöne reif.
In diesem Teil von Goethes ästhetischem Bekenntnis tritt bedeutungs-
voll hervor, daß sich auch der Tod von der gemeinen Wirklichkeit
löst und in Schönheit mündet. Symbolisch für diese Verklärung,
die ihm nur die besten und höchsten Menschen geben können, ist
der Saal der Vergangenheit und Mignons Totenfeier, die jede Häß-
lichkeit hinwegdrängt und nur versöhnende Bilder, zarteste Klage
zuläßt, eine Wehmut, die das Leben doppelt schön erscheinen läßt.
Die festlich gekleideten Kinder, die den Sarkophag umstehen, werden
vom Schlußchor ermahnt: Kinder, eilet ins Leben hinein! In der
Schönheit reinem Gewände begegne euch die Liebe mit himmlischem
Blick und dem Kranz der Unsterblichkeit.
Tod und Liebe — beide erklärt und verklärt die Schönheit.
XLIII
Wilhelm Meisters Lehrjahre wurden von Schiller besonders freudig
aufgenommen, da er in diesem Werk seine eigenen Gedanken auf
das sinnreichste durch bedeutende Gestalten verkörpert sah.
So ging auch durch seinen Brief vom 9. VII. 1796 die erste Anregung
an Goethe, den Lehrjahren die Wanderjahre anzugliedern.

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