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Ein zerrissenes Gemüt, ein schweres Gewissen wird von keiner
Lieblichkeit erfreut, der Wucherer wird zwischen seinen Kunst-
schätzen und Sammlungen verständnislos blöde einhergehen. Ihm
fehlt der Zusammenhang des wissenden Fühlens (cognitio sensitiva).
Indessen lebt der Ärmste, der Beraubteste königlich, wenn Schön-
heit in ihm ist, und er kann königlich schenken. Der Sklave be-
schämt seinen Besitzer, das Opfer den Peiniger, der Kranke den
Gesunden, der äußerlich Häßliche den Wohlgestalteten — man
denke an Sokrates und Aesop. Der Sinnenmächtige kann vom
Blinden beschämt werden, vom Tauben und Stummen. Blinde
Dichter, taube Musiker, ein Beethoven, eine Helen Keller erzählen
den Hörenden, den Sehenden und Lauten von der mystischen
Glückseligkeit ihrer Schönheitswelt.
Die falsche Scham des Nichtbewundernwollens (nil admirari) ist
Wirkung eines künstlich herabgesetzten ästhetischen Ehrgefühls. Wenn
die menschliche Sehnsucht nicht mehr dahin geht, sich irgendwie
auszuzeichnen oder ausgezeichnete Dinge und Menschen neidlos
zu lieben, wenn sie an die Notwendigkeit des Gleichseins glaubt,
wenigstens scheinbar alles Mögliche gleichartig haben will und alles
Überragende oder Besondere verdammt, so verkümmern ästhetische
Einfühlung und ästhetisches Ehrgefühl. Edler Ehrgeiz, der nach
Schönheitswerten strebt, ist nicht zu verwechseln mit gemeinem
Strebertum, das sich mit dem Gröbsten zufriedengibt.
Die Erziehung ging in neuer Zeit dahin, die Sehnsucht nach Bewun-
derung und Begeisterung möglichst zu dämmen und zu unterdrücken.
Jene schreckliche Waffe der Lächerlichkeit, die Shaftesbury wie
andere edle Geister gegen das Häßliche angewendet sehen woll-
ten, wird der jugendlichen Seele gegen das Schöne gegeben und
allzu oft jene starke Fähigkeit der Begeisterung, die das Feen-
angebinde an der Wiege des Menschen bedeutet, gemartert und
geschwächt.
Dann geschieht das Unheimliche: wir überleben unser besseres
Selbst, wir führen gleichsam ein posthumes Dasein. Alle Herrlich-
keiten der Welt, die Musik des Meeres, die Schönheit der Berge,
die Pracht der Blumen greifen nicht mehr bis ins Herz, wir kön-
nen uns nicht mehr am Erwachen der Kinderseele, nicht mehr an
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