Universitätsbibliothek HeidelbergUniversitätsbibliothek Heidelberg
Metadaten

Gleichen-Rußwurm, Alexander
Die Schönheit: ein Buch der Sehnsucht — Stuttgart: Verlag Julius Hoffmann, 1916

DOI Seite / Zitierlink:
https://doi.org/10.11588/diglit.65310#0287
Überblick
Faksimile
0.5
1 cm
facsimile
Vollansicht
OCR-Volltext
Unsere Aufgabe ist, die unverhältnismäßig kleine Summe von
Freude und Glückseligkeit, die es in der Welt gibt, möglichst
zu vergrößern und die unverhältnismäßig große Summe von Leid
nach Kräften abtragen zu helfen.
Mittel und Wege zu diesem Zweck sind unendlich verschieden, je
nach unserer Lebensstellung, unseren besonderen Anlagen und
Talenten, doch jeder, auch der geringste, ist berufen ein Mehrer
des Reiches zu sein im mystischen aber durchaus nicht unwirk-
lichen Reich der Schönheit und von ihr mit Herrscheramt belehnt,
in dem zu gebieten, was er am besten kann und versteht.
Absolute Flucht vor dem Selbst, Selbstverneinung, wie sie etwa
den indischen Heiligen aus Mitleid bewegt, in den eigenen Haaren
und auf den eigenen Schultern Vögel nisten zu lassen, vereint sich
nicht mit dem Schönheitsglauben, der ganz einfach darauf zielt,
allgemeine Freude zu vermehren. Denn die Vögel haben genug
Nistplätze, menschliche Körper sind nicht dafür vorgesehen. Opfer
und Mühe sind nur in dem Grad mit ästhetischer Tugend verein-
bar, als sie eine heilige stille Freude mit sich bringen, unsere Per-
sönlichkeit nicht vernichten, sondern festen und verschönern.
Wohl verdient Mitleid für die erste Tugend zu gelten (wie es in
der chinesischen Philosophie unter dem Namen sin als solche gilt),
aber grenzenloses Mitleid kann krankhaft werden und die Möglich-
keit Freude zu geben dadurch vernichten, daß wir selbst von
Lebensfreude abgeschnitten sind.
Ein allzu Mitleidiger kann auch nicht mehr gerechte Strenge üben.
Wird er bestohlen, so trauert er um die Moral des Diebes, wird
er gekränkt, so fühlt er nicht die Kränkung, sondern klagt um
die Gesinnung desjenigen, der kränken konnte. Mit Recht fürch-
tete Nietzsche, daß die ursprünglich edeln Gefühle schließlich das
Herz zu weich machen und widerstandslos, daß übertriebenes Mit-
leid mit dem Bösen manchmal verleite, ungerecht gegen das Gute
zu werden.
Heiliger Zorn und gesunder Abscheu gegen das Gemeine müssen
kräftigen, wo Mitleid allein auf Abwege führt, ästhetische Tugend
verlangt in keiner Richtung ein Verleugnen der Persönlichkeit,
sondern legt uns vielmehr die Obliegenheit auf, uns selbst bestens
Schönheit 18 273
 
Annotationen