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Göbel, Heinrich
Wandteppiche (I. Teil, Band 1): Die Niederlande — Leipzig, 1923

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https://doi.org/10.11588/diglit.12244#0139
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D e u t u n g

außerordentlich lang, es wird zu Ende des 15. Jahrhunderts in zahlreichen Druck-
auflagen und Holzschnittfolgen wieder und wieder dem Gedächtnis eingehämmert.

Eine andere Version verknüpft die zwölf Monate mit Sprichwörtern oder den in
den betreffenden Monaten üblichen Arbeiten. Eine der prächtigsten Renaissancefolgen,
die sogenannten Lukasmonate, stellt den Höhepunkt dieser ernsten und zugleich poe-
tischen Auffassung dar (Abb. 61). Nach welchem Schema die im Inventar Philipps des
Kühnen (1404) erwähnte Folge der zwölf Monate vorging, läßt sich aus dem Texte
nicht ohne weiteres rekonstruieren.

1507 schreibt Nicolas de la Chesnaye eine längere Abhandlung über den Wert der
verschiedenen Nahrungsmittel. Zum Schlüsse bringt er, dem Gedanken der Zeit ent-
sprechend, eine Moralität „La condamnation des banquetz (80), die nicht weniger wie
3650 Verse umfaßt. Der Gedankengang des Lehrgedichtes, das allzu üppige Lebens-
weise zu bekämpfen sucht, ist etwa folgender: Gourmandise (Gefräßigkeit) und Passe-
temps (Zeitvertreib) verbringen mit ihren guten Freunden und Freundinnen Tag und
Nacht in Schwelgereien. Bankett, Diner und Souper verbünden sich mit Apoplexie
(Schlagfluß), Epilepsie und den übrigen Schlemmerkrankheiten, um die leichtsinnige
Gesellschaft zu Fall zu bringen. Gourmandise, Passetemps, „Je bois ä vous" (Zutrank),
«Je pleige d'autant" (Gegentrunk), „Bonne Compagnie^ (Fidele Gesellschaft) und ihre
guten Freunde erscheinen bei Diner zu Gast. Ein festliches Mahl wird aufgetragen,
im Hintergrunde der weiten Halle schimmern auf hohen Kredenzen goldene und silberne
Gefäße. Die Krankheiten lugen hinterlistig durch die Saalfenster, ohne daß es dies-

mal noch zu Zwischenfällen kommt. Das Mahl bei Souper verläuft stürmischer, die
Krankheiten fallen in Gestalt häßlicher alter Weiber über die pokulierenden Gäste her
und spielen ihnen übel mit. Trotzdem nehmen Gourmandise, Friandise, Passetemps
und ihre Freunde die Einladung Banketts an. Die Krankheiten stürzen sich mit allerlei
Mordinstrumenten auf die leichtsinnige Gesellschaft. Gourmandise, Friandise, Je-bois-
ä-vous und Je-pleige-d'autant werden von Apoplexie und ihren Genossinnen erwürgt.
Bonne Compagnie, Passe-temps und Accoustumance gelingt die Flucht. Sie eilen zu Dame
Expe>ience (Erfahrung) und klagen über die schnöde Behandlung. Die Herrin sendet
ihre Boten unter Führung von Diät, Klistier und Aderlaß, um Bankett mit seiner treu-
losen Sippe festzunehmen. Die Missetäter erscheinen vor dem Richterstuhl der Dame

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