Universitätsbibliothek HeidelbergUniversitätsbibliothek Heidelberg
Metadaten

Göbel, Heinrich
Wandteppiche (I. Teil, Band 1): Die Niederlande — Leipzig, 1923

DOI Page / Citation link:
https://doi.org/10.11588/diglit.12244#0148
Overview
Facsimile
0.5
1 cm
facsimile
Scroll
OCR fulltext
Deutung

rien. In dem Besitze des Kollegs zu Autun in Paris befanden sich einst sechs Wirk-
teppiche, die für den Notar des Königs, Etienne Petit (f 1465) und seine Gattin Jeanne
Barillet (f 1468) gefertigt waren. Ein Stier nimmt auf dem ersten Behänge die Bildfläche
ein, den breiten Rücken deckt eine reiche Decke mit dem Wappenzeichen des Notars.
In der Bordüre — das Vorhandensein läßt auf eine späte Arbeit schließen — wechseln,
ähnlich wie in dem Pariser Fragmente des Musee des Arts Döcoratifs, die Initialen E
und / mit dem Wahlspruche Spes mea deus.

Das angeführte Dekorationsmotiv steht übrigens nur insofern einzig da, als ein Stier
als Wappenträger benutzt wird. In der Regel dienen Hunde oder Hirsche diesem
Zwecke, auch das Einhorn wird, bisweilen herangezogen. Nr. 1744 der Sammlung
Gaignieres bringt im Aquarell einen für Katharina d'Alencon, Gräfin von Mortain —
die spätere Herzogin von Bayern (f 1462) — ausgeführten Teppich. Auf blumigem
Grunde ruht eine Hirschkuh, um den Hals schlingt sich eine Krone, an der ein Schild
mit den Insignien der Häuser Bayern und Alencon hängt. In den vier Ecken prangen
die Wappen derer von Alencon, Bayern, Armagnac und Anjou-Sizilien. Der Wahl-
spruch lautet „Moult espoir me tarde". Diese, einst im Pariser Hötel-Dieu aufbewahrte
Wirkerei erinnert lebhaft an einen Bildteppich im Museum zu Rouen aus dem ersten
Drittel des 16. Jahrhunderts. An dem Geflechtzaune steht ein geflügelter Hirsch mit
mächtigem Geweih, am Halse die reich mit edelen Steinen besetzte Königskrone mit
dem Lilienschilde Frankreichs.

Die Aufmachung mutet auf den ersten Blick seltsam an; dem damaligen Gedanken-
gange war sie vollkommen geläufig. Als Karl VII. am 10. November 1449 in Rouen ein-
zieht, kniet ein Hirsch „par mystere" vor dem Herrscher. „Le dit cerf avoit une cou-
ronne ä son col" (92).

Um den Hals des edelen Tieres schlingt sich in dem Bildteppiche zu Rouen ein
Spruchband:

„Si nobles n'a dessoubz les cieulx
Je ne pourroie porter mieulx."

Innerhalb der Um wehrung ruht ein geflügelter Hirsch, der mit den Vorderfüßen eine
Turnierlanze hält, an der stolz ein Banner flattert, mit dem Kampfe Sankt Michaels
gegen Satan in Drachengestalt. Strahlende Sterne übersäen zwei lange Wimpel. Der
Hirsch trägt das Spruchband:

«Cest estandart est une enseigne
Qui a loial Francois enseigne
De jamais ne l'abandonner
Sil ne veult son honneur donner".

Die linke Seite des Teppichs bringt einen nur teilweise erhaltenen Hirsch, mit Krone
und Schild, in symmetrischer Anordnung zu dem erstgeschilderten Wappentiere:

„Armes porte tres glorieuses

Et sur toutes victorieuses".
Der Hintergrund wird von einem reichen, vorzüglich durchgeführten Baumschlag aus-
gefüllt, über dem sich Burgen auf steilen Hängen erheben. Ein schmaler Ausblick auf
das Meer zeigt eine Galeere unter vollen Segeln. Im Vordergrunde lehnt sich der Lilien-
schild gegen den Flechtzaun, von zwei mächtigen Löwen bewacht. Das Ganze stellt
eine Wappenhuldigung dar, die wahrscheinlich gelegentlich des feierlichen Ordens-
kapitels der Ritter von St. Michael dem Versammlungsraum zum Schmucke diente. Der
in der Umwehrung ruhende allegorische Hirsch, das Sinnbild des französischen König-
tums, stellt die Fragen an seine Lehensträger — die beiden Hirsche mit Krone und
Schild —, ob sie der Standarte St. Michaels immerdar Treue bewahren wollen. Die Ant-
worten bringen die Schriftbänder. Das französische Kroninventar erwähnt 1681 eine
„sehr alte" Wirkerei „oü est representö un Cerf vollant dans chaque piece, sur un
fonds jaune sem6 de flames rouges, avec les armes et la devise de la maison de
Bourbon".

98
 
Annotationen