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Göbel, Heinrich
Wandteppiche (I. Teil, Band 1): Die Niederlande — Leipzig, 1923

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https://doi.org/10.11588/diglit.12244#0165
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D e u t u n g

Zeitgenossen aufs innigste vertraut. Die Anordnung in der einfachsten Form besteht
darin, auf der thronartig aufgebauten Bühne eine der Tugenden oder eine sonstige,
dem Charakter des Festes entsprechende, allegorische Frauengestalt in antikem Ge-
wände, mit Emblemen der verschiedensten Art ausgestattet, vorzuführen. Zu Füßen
des Thronsitzes erläutern Figuren aus der Mythologie oder dem Alten Testamente den
Gedankengang, der durch Gruppenbilder plastisch erweitert und vertieft wird.

Diesen verhältnismäßig einfachen Typ illustriert u. a. eine Folge im österreichischen
Staatsbesitz. Es handelt sich um die Verkörperung der sieben Tugenden. In jedem
Teppich der Reihe thront eine jugendschöne Frauengestalt auf reichem Sitze. Die bei-
gegebenen Attribute und Szenen werden durch eine lateinische Inschrift in der Mitte
der oberen Bordüre glossiert. „Stärke" trägt Helm und Schild, zu ihren Füßen liegt
allerlei Kriegsgerät, auch die mächtige Turnierlanze fehlt nicht (Abb. 86). Der Löwe
bewacht die Herrin. Zur Linken treibt Jael mit wuchtigen Schlägen den Nagel in
das Haupt des schlafenden Sisera (Richter 4, 21), rechts begräbt Simson seine Feinde
unter den berstenden Säulen des Palastes. Im Hintergrunde erscheint Judith mit dem
Kopfe des Holofernes. Ähnlich spielt sich der Vorgang in den übrigen Teppichen ab.
Den Vordergrund nimmt jedesmal ein besonders hervorstechendes Beispiel ein; im
Hintergrunde rollen sich, bisweilen stark ineinandergeschachtelt, verschiedene kleinere
Episoden ab. Die Tugenden entnehmen ihre Symbole nicht mehr dem bislang maß-
gebenden deutschen Ideenkreise; sie fußen im wesentlichen auf der italienischen Tradition.
Die „Hoffnung" macht insofern eine Ausnahme, als sie an die französische Version
anknüpft, die ihr das Schiff — es dient im vorliegenden Falle als Thronsitz — als alle-
gorisches Attribut zuteilt: Der gläubige Christ wird sicher zum himmlischen Reiche
eingehen, wie das vom kundigen Lotsen geleitete Schiff in den schützenden Hafen.
Den „Glauben" ziert Kelch und Lamm; die „Liebe" wird als Caritas mit den ihr
anvertrauten Kindlein dargestellt, mit der Linken reckt sie ein brennendes Herz dem
Himmel entgegen. „Gerechtigkeit" führt Wage und Schwert; „Mäßigkeit" das Misch-
gefäß; „Klugheit" thront auf einem Drachen. Das letztere Symbol ist etwas un-
gewöhnlicher Art. Dem Attribute liegt eine spekulative Idee zugrunde: Die Klug-
heit des reinen Christen besiegt den Drachen des Teufels. In mythologischer Form
wird der gleiche Gedankengang in der Literatur verwertet: Perseus (Christus) über-
windet mit dem Haupte der Gorgo (dem Leiden des Herrn) den Drachen (Satan) und
befreit Andromeda (die Menschheit). Ähnliche Versionen kommen im 16. Jahrhundert
des öfteren vor; sie führen mitunter zu den seltsamsten Gedankensprüngen.

Zweifelsohne blieben die zeitgenössischen Moralitäten und geistlichen Tragödien, die
in großer Zahl allegorische Figuren, in erster Linie die sieben Tugenden zur Darstel-
lung brachten, nicht ohne einschneidenden Einfluß auf die angewandte Kunst, ins-
besondere auf die Bildwirkerei.

Es gehört für den Literaten durchaus nicht immer zu den einfachen Aufgaben, dem
Patronenmaler einwandfreie Unterlagen der bisweilen recht verwickelten Symbole
zu übermitteln; der Leitfaden gestaltete sich um so schwieriger, als in der Spätzeit
des 16. Säkulums die Elemente der deutschen, französischen und italienischen Ikono-
graphie sich stark verwischten und vermengten. Handelte es sich nicht gerade um
landläufige Begriffe, so waren Unklarheiten fast unvermeidlich. Die Symbole der alle-
gorischen Gestalt der Tragödie scheinen dem Prologe von Dolces Marianna, die 1565
im Drucke erschien, entlehnt zu sein — sofern der Dichter nicht nach einem unbekannten
früheren Leitfaden arbeitete —; wir finden sie wieder in einem Brüsseler Teppich aus
der Mitte des 17. Jahrhunderts: eine majestätische Frauengestalt mit Krone, Szepter
und Hermelinmantel trägt das entblößte Schwert. Wie wenig der gelehrte Literat
Italiens die von ihm benutzten Embleme nach ihrer Herkunft zu scheiden weiß, zeigt z. B.
die Aufführung der Giocasta (Jokaste) der Akademiker zu Viterbo (1570). In dem Zwischen-
spiel (Intermedium) nach dem ersten Akte, der den glühenden Ehrgeiz des Eteokles
schildert, erscheint in den Lüften — vermittels geschickter maschineller Anlagen — der
Nachruhm, auf einer Chimäre reitend, mit allerlei allegorischem Beiwerk; die Bescheiden-

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