Deutung
Szene spielt vor des Weltenrichters Thron. „Humilitas" und „ Caritas" sitzen zu beiden
Seiten des Heilandes. „Natura" und „Miseria" erflehen Gnade für die sündige Seele.
In etwas veränderter Fassung spielt sich das Menschenschicksal in einem Bildteppich
aus Langford Hill (Cornwall) ab, der 1910 in London zum Verkaufe kam (429). Das
Stück hing ursprünglich in Hampton Court, der Fries der großen Halle mit den Wappen
Heinrichs VIII. setzt sich in der oberen Bordüre fort. Eine Teilszene bringt die Be-
waffnung; Caritas überreicht dem Erdenkämpfer das Banner mit den 5 Wunden Christi;
Homo erscheint als schwer gerüsteter Ritter. Die Episode wirkt in diesem Zusammen-
hange um so eigenartiger, als sie in einem Teppich der Berwick und Alba-Sammlung
mit veränderter Bedeutung auftritt. Im letzteren Falle ist Christus der Ritter mit dem
Wundenbanner, der zum Kampfe gegen die Laster gewaffnet wird. Unten rechts ent-
faltet sich in dem Behänge von Langford Hill der Streit der Laster und Tugenden.
Neid wirft nach ritterlichem Brauche Caritas den Handschuh zu. Die Legende spielt
sich im übrigen nach dem bekannten Gedankengange ab. Homo verzagt und gerät
in Verzweiflung. Tröstend nahen drei Männer. Der eine trägt die Gesetzestafeln am
Hut; er symbolisiert das „Alte Testament" bezw. die „Heilige Schrift"; das Emblem
wird bisweilen auch für den „Zeugen der Wahrheit" gewählt. Die Bedeutung der
beiden anderen allegorischen Gestalten, die keine besonderen Abzeichen aufweisen, ist
nicht ohne weiteres ersichtlich.
Als Prophet glossiert König David die Darstellung mit dem Psalmworte: Gürte dein
Schwrei t an deine Seiten, du Held, und schmücke dich schön (Ps. 45, V. 4).
Zwei Szenen in der oberen linken Ecke des Behanges beziehen sich augenscheinlich
auf die Vergebung der Sünden. Der kleine Maßstab der mir vorliegenden Wiedergabe
läßt keine Namen und Einzelheiten erkennen, zudem scheint die umfangreichere Episode
nur ein Teilstück zu sein, das in dem zugehörigen Teppiche einst seine Fortsetzung fand.
Das Schema des ruhenden, von allegorischen Gestalten umgebenen Homo erfreut sich
besonderer Beliebtheit; die Gruppe w7ird durch Zufügung veränderter Namen auch in
Allegorien verwandt, die mit unserem Thema wenig gemeinsam haben. Gentiii be-
schreibt einen Bildteppich in amerikanischem Privatbesitze. Judas Makkabäus ruht in
der Haltung des Homo. Justitia mit dem Schwerte, Fortitudo mit der Lanze und zwei
nicht näher zu deutende Gestalten (anscheinend Propheten) vervollständigen die Apo-
theose (130). Andere Teppiche der von Gentiii beschriebenen Folge schließen sich
wiederum dem Homozyklus an.
Der prächtige Behang zu Burgos findet seine Ergänzung in einem zweiten Teppiche
der Folge, der gleichfalls der Kathedrale eignet. Die Szenen zeigen nicht mehr den
geschlossenen einheitlichen Zug; die Legende des in Sünden verfangenen Menschen —
Homo liegt in Ketten, Natura, Miseria und Spes mit den Patriarchen des Alten Bundes
erscheinen als Tröster und Berater, Temptator lauert auf seine Beute — wird durch
ergänzende Episoden weitergesponnen.
Merkwürdigerweise wird das so naheliegende Gleichnis vom verlorenen Sohn nicht
mit dem Schicksal des Erdenpilgers identifiziert.
Die niederländische Literatur verarbeitet die Parabel, dem Geiste der Zeit folgend,
nach zwei, allerdings vielfach ineinanderfließenden Richtungen; die eine sucht das Thema
nach dem Rezepte der altrömischen Komödiendichter zu lösen, die zweite geht nach
dem bewährten Systeme der Moralitäten vor.
Der Acolastus des Gulielmus Gnapheus (Willem de Volder) ist das Prototyp der
ersten Auffassung. Das Werk erschien 1529 im Drucke und erlebte unzählige Auflagen.
Das Hurenhaus mit den Dirnen — an ihrer Spitze die schöne Lais — und den
trunkenen Gästen, die ihr Geld Frau Venus und Herrin Fortuna opfern, nimmt einen
verhältnismäßig breiten Raum ein. Die drastischen Episoden sind weniger für die
flämischen Bildteppiche wie namentlich für die deutschen Wirkereien von Bedeutung
geworden. Gnapheus arbeitet stark mit Plautinischen und Terenzischen Effekten. Im
Gegensatze zu dem Acolastus steht der etwa 15 Jahre früher entstandene Asotus des
Niederländers Macropedius. Der Zusammenhang mit den voraufgegangenen'Mysterien
125
Szene spielt vor des Weltenrichters Thron. „Humilitas" und „ Caritas" sitzen zu beiden
Seiten des Heilandes. „Natura" und „Miseria" erflehen Gnade für die sündige Seele.
In etwas veränderter Fassung spielt sich das Menschenschicksal in einem Bildteppich
aus Langford Hill (Cornwall) ab, der 1910 in London zum Verkaufe kam (429). Das
Stück hing ursprünglich in Hampton Court, der Fries der großen Halle mit den Wappen
Heinrichs VIII. setzt sich in der oberen Bordüre fort. Eine Teilszene bringt die Be-
waffnung; Caritas überreicht dem Erdenkämpfer das Banner mit den 5 Wunden Christi;
Homo erscheint als schwer gerüsteter Ritter. Die Episode wirkt in diesem Zusammen-
hange um so eigenartiger, als sie in einem Teppich der Berwick und Alba-Sammlung
mit veränderter Bedeutung auftritt. Im letzteren Falle ist Christus der Ritter mit dem
Wundenbanner, der zum Kampfe gegen die Laster gewaffnet wird. Unten rechts ent-
faltet sich in dem Behänge von Langford Hill der Streit der Laster und Tugenden.
Neid wirft nach ritterlichem Brauche Caritas den Handschuh zu. Die Legende spielt
sich im übrigen nach dem bekannten Gedankengange ab. Homo verzagt und gerät
in Verzweiflung. Tröstend nahen drei Männer. Der eine trägt die Gesetzestafeln am
Hut; er symbolisiert das „Alte Testament" bezw. die „Heilige Schrift"; das Emblem
wird bisweilen auch für den „Zeugen der Wahrheit" gewählt. Die Bedeutung der
beiden anderen allegorischen Gestalten, die keine besonderen Abzeichen aufweisen, ist
nicht ohne weiteres ersichtlich.
Als Prophet glossiert König David die Darstellung mit dem Psalmworte: Gürte dein
Schwrei t an deine Seiten, du Held, und schmücke dich schön (Ps. 45, V. 4).
Zwei Szenen in der oberen linken Ecke des Behanges beziehen sich augenscheinlich
auf die Vergebung der Sünden. Der kleine Maßstab der mir vorliegenden Wiedergabe
läßt keine Namen und Einzelheiten erkennen, zudem scheint die umfangreichere Episode
nur ein Teilstück zu sein, das in dem zugehörigen Teppiche einst seine Fortsetzung fand.
Das Schema des ruhenden, von allegorischen Gestalten umgebenen Homo erfreut sich
besonderer Beliebtheit; die Gruppe w7ird durch Zufügung veränderter Namen auch in
Allegorien verwandt, die mit unserem Thema wenig gemeinsam haben. Gentiii be-
schreibt einen Bildteppich in amerikanischem Privatbesitze. Judas Makkabäus ruht in
der Haltung des Homo. Justitia mit dem Schwerte, Fortitudo mit der Lanze und zwei
nicht näher zu deutende Gestalten (anscheinend Propheten) vervollständigen die Apo-
theose (130). Andere Teppiche der von Gentiii beschriebenen Folge schließen sich
wiederum dem Homozyklus an.
Der prächtige Behang zu Burgos findet seine Ergänzung in einem zweiten Teppiche
der Folge, der gleichfalls der Kathedrale eignet. Die Szenen zeigen nicht mehr den
geschlossenen einheitlichen Zug; die Legende des in Sünden verfangenen Menschen —
Homo liegt in Ketten, Natura, Miseria und Spes mit den Patriarchen des Alten Bundes
erscheinen als Tröster und Berater, Temptator lauert auf seine Beute — wird durch
ergänzende Episoden weitergesponnen.
Merkwürdigerweise wird das so naheliegende Gleichnis vom verlorenen Sohn nicht
mit dem Schicksal des Erdenpilgers identifiziert.
Die niederländische Literatur verarbeitet die Parabel, dem Geiste der Zeit folgend,
nach zwei, allerdings vielfach ineinanderfließenden Richtungen; die eine sucht das Thema
nach dem Rezepte der altrömischen Komödiendichter zu lösen, die zweite geht nach
dem bewährten Systeme der Moralitäten vor.
Der Acolastus des Gulielmus Gnapheus (Willem de Volder) ist das Prototyp der
ersten Auffassung. Das Werk erschien 1529 im Drucke und erlebte unzählige Auflagen.
Das Hurenhaus mit den Dirnen — an ihrer Spitze die schöne Lais — und den
trunkenen Gästen, die ihr Geld Frau Venus und Herrin Fortuna opfern, nimmt einen
verhältnismäßig breiten Raum ein. Die drastischen Episoden sind weniger für die
flämischen Bildteppiche wie namentlich für die deutschen Wirkereien von Bedeutung
geworden. Gnapheus arbeitet stark mit Plautinischen und Terenzischen Effekten. Im
Gegensatze zu dem Acolastus steht der etwa 15 Jahre früher entstandene Asotus des
Niederländers Macropedius. Der Zusammenhang mit den voraufgegangenen'Mysterien
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