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Göbel, Heinrich
Wandteppiche (I. Teil, Band 1): Die Niederlande — Leipzig, 1923

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https://doi.org/10.11588/diglit.12244#0569
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E n g h i e n

E n g h i e n.

Die kleine Stadt Enghien (Edingen) besaß zu geringe politische und wirtschaftliche
Bedeutung, um je eine bedeutende Rolle in der Geschichte des Landes zu spielen.
Die Teppichwirkerei Enghien's hat weder einen typisch kommerziellen, noch einen
besonders ausgeprägten künstlerischen Charakter. Die Erzeugnisse sind guter Durch-
schnitt, vereinzelte Arbeiten vermögen sich mit den ersten Manufakturen Brüssels zu
messen.

Der Ursprung der Bildteppichindustrie geht in Enghien, wie in den meisten nieder-
ländischen Städten, auf die erste Hälfte des 15. Jahrhunderts zurück. Die Angaben
früher Chronisten, wie die P. Colins', Vinchant's und anderer, sind unkritisch und
ungenau; sie haben mehr die Entwicklung der alten flämischen Tuchweberei, als die
der Wirkereimanufakturen im Auge. Grundlegend für die vorliegende Bearbeitung
sind die Zusammenstellungen Pinchart's und der Aufsatz Destrees „LTndustrie de la
Tapisserie ä Enghien et dans la Seigneurie de ce nom(l)." Immerhin ist zu hoffen,
daß eine nochmalige eingehende Durchsicht der einschlägigen Archive Neues zu Tage
fördern wird. In erster Linie gilt dies hinsichtlich der Zuschreibung der großblätt-
rigen Verdüren, die allerdings keine Sonderheit Enghiens darstellen, sondern in ver-
schiedenen flämischen Tapisseriezentren mit gewissem lokalen Einschlage gefeitigt
wurden. Das Urkundenstudium an Ort und Stelle ist für mich infolge der leidigen
Nachkriegsverhältnisse leider ausgeschlossen.

1410 wird ein Wirker Michiel Betthen, 1445 ein Herman des gleichen Namens
erwähnt. Einzelheiten über diese frühe Manufaktur sind mir nicht bekannt. Auch das
Inventarverzeichnis von 1470, das über den beweglichen Besitz des unglücklichen
Grafen Ludwig von Saint-Pol aufgestellt wurde, in dem sich zahlreiche Wirkteppiche
finden, ist ohne wesentliche Bedeutung für die Manufaktur Enghien. Die Schluß-
folgerung Pincharts, der verschiedene aus der Konfiskation stammende Tapisserien
Enghien zuschreibt, stützt sich in der Hauptsache auf die Tatsache, daß Graf Ludwig
1469 den Wirkern der Stadt einen jährlichen Markt gestattete. Ob es sich bei den
1479 von dem Händler Stephan van der Brüggen aus Enghien an das Erzhaus gelie-
ferten beiden einfachen Wirkereizimmern — 600 Quadratellen Inhalt, Gesamtpreis
360 L. — um einheimische Erzeugnisse handelt, läßt sich nicht ohne weiteres aus dem
Texte folgern. Ebensowenig ist die Hypothese zu halten, die die bekannte Arenberg-
sche Wirkerei des Königs Modus und der Königin Ratio, mit dem Wappen Philipps
von Kleve und seiner Gemahlin Francoise von Luxemburg, Enghien zuschreibt, jener
prächtige Teppich, der in geistreicher Weise den uralten Streit zwischen Jägern
und Falknern in seinen letzten Schlußfolgerungen in das moralisierende Gebiet überträgt.
Die Tatsache, daß der mächtige Philipp von Kleve, der Herr von Ravestein, mehr-
fach von der ihm unterstellten Stadt Enghien Wirkteppiche als Geschenk annimmt
(1503), verschiedentlich auch Behänge aufkaufen läßt (1504), beweist an und für sich
nicht, daß der Teppich mit der Geschichte des Königs Modus dieser Manufaktur ent-
stammt. Philipp von Kleve, der zeitweilig eine beherrschende Rolle in der Geschichte
Flanderns spielte, war wohl einer der ersten Staatsmänner seiner Zeit, der auch in
wirtschaftlichen und künstlerischen Dingen durchaus fortschrittlich dachte, der mit den
Gedanken der neuerwachten Antike so eng verbunden war, daß er 1505 seinem Ober-
lehensherrn ein auf flachem Grunde gemalte nackte Frauengestalt als Geschenk über-
reichen ließ (2), ein besonderer Förderer der Bildteppichwirkerei war er nicht;
wenigstens fehlten bislang die entsprechenden Belege. Mit dem gleichen Rechte lassen
sich mehr oder weniger alle in seinem Nachlasse vorgefundenen Wirkteppiche Enghien
zuschreiben (3).

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